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Salvatore Garau

Salvatore Garau und konzeptuelle Immaterialität in der Kunstwelt

Salvatore Garau, geboren 1953 in Santa Giusta (eine italienische Gemeinde in der Provinz Oristano auf Sardinien), ist seit mehr als fünfzig Jahren in der Kunstwelt aktiv. Seine Gemälde und Fotografien wurden weltweit ausgestellt, unter anderem zweimal auf der Kunstbiennale in Venedig, und hängen in vielen Museen. Zudem produziert er Filme und Musik.

In den letzten Monaten polarisierte Garau die Kunstszene mit seinen nicht sichtbaren, immateriellen Skulpturen – zwar nicht fürs Auge sichtbar, aber laut Garau nicht unsichtbar. Skulpturen, die die Aktivierung der eigenen Vorstellungskraft verlangen, oder auch ein „Raum voller Energie“, in dem sich „Gedanken verdichten“, basierend auf der Lehre des Physikers Werner Heisenberg (1901 - 1976): „Selbst wenn man den Raum leert und nichts zurückbleibt, hat diese Leere ein Gewicht.“. Der künstlerische Grundgedanke selbst rückt in den Mittelpunkt – es geht um die Vermittlung einer Idee, die Konstruktion einer Situation, welche Gedanken und Emotionen hervorruft.

Im Februar 2021 stellte Garau „Buddha in Contemplation“ („Buddha in Kontemplation“) in Mailand auf der Piazza de la Scala aus. Im Juni 2021 wurde „Aphrodite Crying“ („Weinende Aphrodite“) vor der New Yorker Börse platziert, eine Zusammenarbeit mit dem italienischen Kulturinstitut in New York. Beide Skulpturen bestanden im Wesentlichen aus einer Markierung in Form von auf dem Boden angebrachten Klebeband – und Garaus philosophisch anmutenden Grundgedanken.

Garau versteht diese Skulpturen – entgegen mancher öffentlicher Kritik - nicht als Scherz. Er betrachtet seine immateriellen Skulpturen als poetisches Abbild unserer Zeit. „Sobald ich mich für einen Titel und Platz entscheide, konzentrieren sich dort die Gedanken der Menschen und erschaffen eine individuelle Skulptur“, sagte Garau in einem Interview. „An der Börse wird in jeder Minute immaterielles Geld verdient und vernichtet. Dabei geht die Schönheit des Planeten kaputt. Deshalb weint Aphrodite.“.

Garau plant eine Reihe von sieben weltweit öffentlich ausgestellten immateriellen Skulpturen, für den jeweiligen Platz entworfen. Seine nächste Skulptur möchte Garau in Berlin platzieren.

Unsichtbare Werke zu erschaffen fällt Garau schwerer als die Arbeit an seinen sichtbaren Werken – „Es ist der Titel, der spricht, im Grunde genommen ein kleines Gedicht, wie ein kurzer Film der die ganze Welt einschließt, deshalb ist es nicht einfach ihn auszudenken, es erfordert sehr viel Konzentration und intensives Nachdenken.“.

Im Mai 2021 versteigerte ein privater Kunstsammler Garaus immaterielle Skulptur „Io Sono“ („Ich bin“) über das Auktionshaus Art-Rite in Mailand. Der Auktionsprospekt bewarb die Skulptur als Werk „von größter Wichtigkeit und intellektueller Stimulation“. Eine Privatperson erstand „Io Sono“ für 14.820 Euro und erhielt ein Zertifikat mit Garaus Siegel und Unterschrift, zusammen mit der Anweisung: „Aufzustellen in einem Privathaus, in einem Raum frei von Hindernissen auf 150 x 150 cm.“. Das Zertifikat dürfe nicht im selben Raum wie die Skulptur ausgestellt werden, da nichts ablenken soll von den Gedanken, die die Skulptur anregt.

Die Auktion erregte viel mediale Aufmerksamkeit, und Garaus immaterielle Skulptur stieß bei vielen auf Unverständnis. Garau ließ sich von den öffentlichen Kommentaren nicht aus der Ruhe bringen: „Es gibt doch bereits so viel Nichts, das als irgendetwas verkauft wird, und niemand bemerkt es.“

Zudem sieht sich Garau mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert – ein Künstler aus Florida und einer aus Spanien warfen Garau unabhängig voneinander vor, ihre Idee kopiert zu haben. Beide hatten in den letzten Jahren unsichtbare Skulpturen veröffentlicht. Mit dem spanischen Künstler konnte Garau die Streitigkeiten schnell klären. Aber Tom Miller, der Künstler aus Florida, möchte sogar vor Gericht ziehen. Miller stellte 2016 eine nicht sichtbare Skulptur mit dem Namen „Nothing“ („Nichts“) auf dem Bo Diddley Community Plaza in Gainesville aus und behauptet, er hätte einen Anspruch auf Urheberrecht. Es wäre verwunderlich, wenn Millers Klage stattgegeben wird – schließlich ist er entgegen seiner Annahme bei weitem nicht die erste Person mit einer solchen Idee.

Künstler weltweit haben sich seit mehr als hundert Jahren mit dem Thema Immaterialität konzeptuell auseinandergesetzt – und das Immaterielle gestattet vielfältige Ausdrucksformen.

Marcel Duchamp fertigte 1919 „Air de Paris“ („Luft aus Paris“) für seinen Freund Walter Arensberg an: Duchamp versiegelte eine leere pharmakologische Glasampulle und versah sie mit der Aufschrift „Serum Physiologique“ („Physiologisches Serum“). Inzwischen befindet sich die „Luft“ im Kunstmuseum in Philadelphia.

Yves Klein widmete 1958 dem Immateriellen eine komplette Ausstellung. Klein stellte eine Serie immaterieller Bilder in der Galerie Iris Clert (Paris, Frankreich) mit dem Titel „Le Vide“ („Die Leere“) aus. Die leeren, weiß gestrichenen Räumlichkeiten der Galerie wurde von tausenden Kunstinteressierten aufgesucht, und Klein wurde als bedeutender Künstler der Moderne gefeiert. Klein verkaufte die unsichtbaren Werke als „Zones of Immaterial Pictorial Sensibility Serie n°1“ („Zonen der Immateriellen Malerischen Sensibilität Serie n°1“). Für jeweils 5 Gramm Gold bekamen die KäuferInnen einen Beleg über eine der „Zonen“. Klein forderte die KäuferInnen auf, die Belege zu verbrennen, und warf im Gegenzug für jeden verbrannten Beleg jeweils die Hälfte seines Ertrags in die Seine (Fluss in Nordfrankreich). Jacques Kugel, der auch eine der „Zonen“ erstand, weigerte sich, seinen Beleg zu verbrennen. Sein Beleg wechselte im Laufe der Jahre mehrfach den Besitzer und wurde 2022 bei einer Auktion von Sotheby’s in Paris für 1,2 Millionen Dollar an einen Privatsammler verkauft.

Angeführt vom italienischen Künstler Piero Manzoni entstand 1960 eine Kunstbewegung, die sich auf leere Räume konzentriert: „Esposizione internazionale del Niente“ („Internationale Ausstellung von Nichts“). Eine Gruppe zeitgenössischer Künstler schloss sich Manzoni an, darunter Carl Laszlo, Heinz Mack und Enrico Castellani. 1960 und 1961 stellten die Künstler unsichtbare Werke aus. Zusätzlich veröffentlichte die Gruppe ein Manifest, in welchem sie ihre Grundgedanken festhielten: „Canvas is hardly worth canvas. Sculpture is almost as good as no sculpture. A car is almost as beautiful as no car. Music is almost as enjoyable as no noise. No art market is as fruitful as the art market. Something is almost nothing.“ („Leinwand ist kaum mehr wert als Leinwand. Eine Skulptur ist beinahe so gut wie keine Skulptur. Ein Auto ist beinahe so schön wie kein Auto. Musik ist beinahe so genießbar wie Stille. Kein Markt ist so ertragreich wie der Kunstmarkt. Etwas ist beinahe nichts.“)

Gino De Dominicis‘ Werk „Cubo invisibile“ („Unsichtbarer Kubus“) - bestehend aus vier weißen Linien auf dem Boden, welche die Maße des Kubus andeuten - wurde 1967 auf der Kunstbiennale in Vendig ausgestellt.

„Invisible Sculpture“ („Unsichtbare Skulptur“) von Andy Warhol wurde 1985 im „Area“, einem berühmten Nachtclub in New York, postiert. Warhol stellte sich auf einen weißen Sockel, hielt eine kurze Lesung und erklärte dann, dass seine Aura weiter auf diesem Sockel bleiben würde.

Maurizio Cattelan fand 1991 eine kreative Lösung für ein künstlerisches Dilemma: er sollte ein Kunstwerk für eine Ausstellung ausarbeiten. Cattelan ging zu einer Polizeiwache und erstattete Anzeige darüber, dass eine unsichtbare Skulptur aus seinem Auto gestohlen worden sei. Der offizielle, mehrfach gestempelte Polizeibericht wurde von Cattelan als Kunst deklariert und bei der Ausstellung präsentiert.

Auch Gabriel Orozco spielte mit dem Konzept der Immaterialität – 1993 wurde sein Werk „Empty Shoe Box“ („Leerer Schuhkarton“) auf der Kunstbiennale in Venedig zur Schau gestellt – wie der Titel vermuten lässt, bestehend aus einem leeren Schuhkarton, welcher den freien Raum, in dem er ausgestellt wurde, repräsentieren sollte. 

Das Museum of Non-Visible Art (MONA) entstand 2011 aus einem Kunstprojekt einer Kollaboration von dem Schauspieler James Franco und Praxis, dem künstlerischen Team von Brainard und Delia Carey. Die Werke im Museum entspringen der Welt der Gedanken – es geht dabei um die Vermittlung visueller Ideen und Träume, die ihre Präsenz entfalten, indem sie mit Worten beschrieben werden.

Inzwischen existieren also unzählige immaterielle Kunstwerke, die trotz ihrer grundliegenden Ähnlichkeiten individuell im Kontext ihrer Zeit und mit Hinblick auf die Bandbreite der zugrundeliegenden konzeptuellen künstlerischen Ansätze zu betrachten sind.

In der Regel definieren sich Kunstwerke über ihre visuelle Materialisierung – wobei diese Materialisierung in erster Linie nur strukturelle Erscheinung ist. Die vermittelten Inhalte sind sinnlich-visuell. Immaterielle Kunstwerke entziehen sich durch ihre Entmaterialisierung konsequent der visuellen Wahrnehmung. Ihre Immaterialität ergibt sich durch ihre Abwesenheit, durch Leere, durch freien Raum – durch einen Titel gewinnt das Immaterielle Präsenz, es wird durch Sprache projiziert. Diese Kunstwerke sind visuell absent, doch das Spiel mit den Grenzen der visuellen Wahrnehmung ermöglicht eine Verlagerung des Werks in den Gedankenbereich bei entsprechender Disposition der BetrachterInnen.