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Otl Aicher

Otl Aicher war ein prägender, einflussreicher Gestalter bzw. Designer, Typograph, (Hochschul-) Lehrer und Publizist mit einem besonderen Lebensweg. Seine gestalterischen und humanistischen Betrachtungsweisen sind zeitlos inspirierend.

Er wurde am 13. Mai 1922 als Otto Aicher in Ulm (Deutschland) geboren. Gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern wuchs er bei seinen Eltern in Ulm-Söflingen auf. Sein Vater Anton Aicher (1895-1969), ein Handwerker, galt als christlich, praktisch veranlagt, aufrecht und ideologiefrei. Otl Aicher engagierte sich während seiner Schulzeit in der Katholischen Jugendbewegung, wo er den antinationalsozialistischen Pfarrer Franz Weiß (1892-1985) kennen und schätzen lernte. Des Weiteren hatte er Kontakt zu der später verbotenen, regimekritischen katholischen Jugendorganisation Quickborn und war Mitglied in der Deutschen Jungenschaft vom 1. November 1929 (dj.1.11). Er verweigerte den Eintritt in die Hitler-Jugend, obwohl er dadurch gegen die damals geltende Jugenddienstpflicht verstieß. Eine der Konsequenzen daraus war, dass er nicht zum Abitur zugelassen wurde. In den 1930er Jahren freundete sich Otl Aicher mit seinem Mitschüler Werner Scholl (1922-1944) an, und durch ihn lernte Otl Aicher die Familie Scholl kennen, darunter Werners Geschwister Sophie (1921-1943), Hans (1918-1943) und seine spätere Ehefrau Inge (1917-1998).

Ende 1940 ließ sich Otl Aicher einen schweren eisernen Heizkörper auf die linke Hand fallen, um sich der damaligen Mobilmachung zu entziehen. Drei seiner Finger blieben Zeit seines Lebens steif. Dennoch wurde er 1941 zum Reichsarbeitsdienst und im Anschluss zur Wehrmacht eingezogen. Er diente in einer Artillerieeinheit als Funker, zunächst in Russland, später in Frankreich. Durch selbst verursachte Krankheiten und daraus resultierende Lazarettaufenthalte versuchte Otl Aicher kontinuierlich, dem Krieg weitestmöglich zu entkommen. Aufgrund seines engen Kontaktes zu der Familie Scholl wurde er ab Februar 1943 mehrfach von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhört. Trotz seiner regimekritischen Haltung war Otl Aicher jedoch nicht in den Widerstand der Weißen Rose involviert. Nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl sowie dem Vermissen seines Freundes Werner Scholl an der russischen Front versuchte Otl Aicher weiterhin erfolglos dem Militärdienst zu entkommen, unter anderem durch Automutilation, bis er schlussendlich im März 1945 desertierte, während er an der oberen Mosel stationiert war. Er kam bis zum Ende des Krieges im Schwarzwald bei Franz und Kätherle Binninger auf dem Bruderhof in Ewattingen (heute Wutach) unter, wo auch Inge Scholl gemeinsam mit ihren Eltern versteckt und verpflegt wurde.

Mitte Mai 1945 konnte Otl Aicher in das kriegszerstörte, von Amerikanern besetzte Ulm zurückkkehren. In der Überzeugung, dass etwas getan werden muss, damit so etwas wie das Dritte Reich nie wieder zustande kommen kann, organisierte er gemeinsam mit gleichgesinnten FreundInnen monatliche Vorträge und Gesprächsrunden zu gesellschaftspolitischen Themen. Die Veranstaltungen fanden meist in der evangelischen Martin-Luther-Kirche in der Ulmer Weststadt statt, und Otl Aicher gestaltete die Veranstaltungsplakate.

1946 bekam Otl Aicher ein Angebot der Stadtverwaltung Ulm und der amerikanischen Militärverwaltung: er sollte die Leitung der zu gründenden Ulmer Volkshochschule (vh ulm) übernehmen, doch er lehnte ab und schlug stattdessen seine Freundin Inge Scholl vor, welche diese Position ab April 1946 erhielt. Otl Aicher wollte Bildhauer werden. Er immatrikulierte sich an der Akademie der Bildenden Künste München und belegte Kurse bei dem Bildhauer und Maler Prof. Anton Hiller (1893–1985), doch er brach das Studium bereits 1947 ab – er wollte keine Kunst um der Ästhetik willen schaffen, vielmehr fühlte er sich zu der Gebrauchsgrafik hingezogen. 1948 gründete Otl Aicher als unerfahrener Quereinsteiger ein eigenes Grafikbüro in Ulm. Er entwarf Plakate und Informationsbroschüren nach einem eigenen, klar strukturierten, komplexen System; viele davon für die vh ulm. 

Im Juni 1952 heirateten Otl Aicher und Inge Scholl. Die beiden bekamen im Laufe ihrer gemeinsamen Zeit fünf Kinder.

Otl Aicher, Inge Aicher-Scholl und der Schweizer Gestalter Max Bill (1908-1994) gründeten 1953 die hochschule für gestaltung ulm (hfg ulm). Gemeinsam erarbeiteten sie ein theoretisches Konzept für die Lehre, orientiert an der Bauhaus-Schule (1919-1933) – auch ehemalige Bauhaus-Lehrer wie Johannes Itten sollten in Ulm unterrichten. Der Lehrbetrieb begann im August 1953. Max Bill übernahm zunächst das Rektorat. Otl Aicher war der erste Dozent der Abteilung „visuelle kommunikation“ – Grafik sollte als soziale Kommunikation fungieren, und Otl Aicher lehrte nach diesen Grundprinzip neben Grafik auch Fotografie, Typographie und technische Kommunikation. Otl Aicher legte dabei neben der Vermittlung von Wissen großen Wert auf eigenständiges, kritisches Denken und ein demokratisches Grundverständnis. Nach internen Kontroversen über den pädagogischen Aufbau des Lehrprogramms trat Max Bill 1956 zurück, und Otl Aicher wurde erst Mitglied des Rektoratskollegiums, dann alleiniger Rektor von 1962 bis 1964. Unter ihm begann eine neue Phase der hfg ulm, deren Lehrkonzept als „ulmer modell“ bekannt und weltweit verbreitet wurde. Zudem richtete Otl Aicher sogenannte Entwicklungsgruppen ein, die wie eigenständige Gestaltungsbüros innerhalb der Hochschule fungierten. Diese Entwicklungsgruppen nahmen Kontakt zur Wirtschaftsindustrie auf - die StudentInnen wurden zu IndustriedesignerInnen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit herrschte aufgrund der immensen Zerstörungen in den Städten einen Nachholbedarf in der Produktion. Einem ökonomischen und demokratischen Prinzip folgend, sollten sich alle alles leisten können – die Aufträge aus der Industrie sollten serielle Produktionen ermöglichen. Die Entwicklungsgruppen der hfg ulm verknüpften Theorie und Praxis. So wurden unter anderem  Radio- und Phonogeräte für die Firma Braun, Nähmaschinen für die Firma Pfaff und Triebwagen der Hamburger Hochbahn entwickelt. 1962 übernahm Otl Aicher mit einer von ihm geleiteten Entwicklungsgruppe das visuelle Erscheinungsbild der Deutschen Lufthansa, das bis heute die Identität des Unternehmens prägt: es entstanden nicht nur ein neues Firmenlogo und –farben, sondern ein ganzheitliches Erscheinungsbild. Von Kofferanhängern über Flugpläne bis hin zur Gestaltung der Flugzeuge selber wurde alles in Handbüchern definiert.

Zwischendurch bereiste Otl Aicher als Gastprofessor Amerika und Brasilien.

Ende 1968 musste der Lehrbetrieb der hfg ulm eingestellt werden, da ihre Fördergelder gestrichen worden waren. Otl Aicher befand sich zu der Zeit schon in München: auf direkte Anweisung des  Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland (NOK) Willi Daume (1913–1996) und des Münchener Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (*1926) übernahm er das Amt des Gestaltungsbeauftragten für die Olympischen Spiele 1972. In einer Fabrikhalle in Garching (nah an München) entwickelte Otl Aicher gemeinsam mit seinen vierzig AssistentInnen, darunter auch ehemalige StudentInnen der hfg ulm, das Corporate Design (die Gestaltung eines gesamten, einheitlichen Erscheinungsbildes) der kommenden Olympischen Spiele. Otl Aicher legte großen Wert darauf, dass nichts an die Olympischen Spiele 1936 in Berlin erinnern sollte. Deshalb verbannte er die Farbe Rot und legte ein Farbschema mit sechs Grundfarben basierend auf den Spektralfarben des Regenbogens fest: zwei Grüntöne, zwei Varianten Blau, Sonnengelb und Orange; dazu kamen Silber und Weiß. Die hellen, heiteren Farben, sollten an die Grün- und Blautöne der bayrischen Landschaft erinnern. Neben dem freundlichen Erscheinungsbild spielte gleichzeitig die Präsentation relevanter Informationen eine große Rolle: Übersichts- und Lagepläne, die Zeitpläne der Spiele, etc. sollten für BesucherInnen aller Länder mit einfachen Mitteln deutlich erkennbar sein. Otl Aicher entwarf dafür ein System aus Piktogrammen – visuelle Zeichen, die die schnelle Orientierung ermöglichen. Ähnliche Bildzeichen wurden bereits bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio verwendet, entworfen von dem japanischen Grafiker Masaru Katsumi (1909-1983). Otl Aicher griff diese Idee auf und entwickelte zusammen mit seinen MitarbeiterInnen geometrische Grundformen auf einem klar definierten Raster, so dass Motive einfach modifiziert werden können. Es entstanden Piktogramme für die einzelnen Sportarten, für Notausgänge, Damen- und Herrentoiletten, und viele mehr. Ab 1976 wurde dieses Piktogrammsystem der Allgemeinheit verfügbar gemacht, und bis heute werden viele dieser Piktogramme weltweit verwendet.

Die Familie Aicher-Scholl zog 1972 in eine ehemalige Getreidemühle in der Ortschaft Rotis, rund 10 Kilometer nordwestlich von Leutkirch im Allgäu. Angrenzend wurden Atelierhäuser gebaut, in welchen Otl Aicher seine „rotis büros“ unterbrachte. Dort arbeitete Otl Aicher zeitweise mit bis zu einem Dutzend MitarbeiterInnen an Corporate Designs sowie grafischen Publikationen. Darüber hinaus begab sich Otl Aicher regelmäßig auf Seminar- und Vortragsreisen, veröffentlichte eine eigene Schriftart („rotis“) und verfasste Bücher, teils mit gestalterischen, praxisorientierten Inhalten, teils mit politisch-philosophischen Ansätzen.

In all den Jahren blieben Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl weiterhin zivilgesellschaftlich aktiv: sie engagierten sich in der Friedensbewegung und besuchten viele Demonstrationen, unter anderem gegen Atomkraft.

Im Alter von 69 Jahren, kurz vor seinem Tod, fertigte Otl Aicher Büsten von Hans und Sophie Scholl an, welche bis heute im Ulmer Stadthaus ausgestellt sind.

Otl Aicher verstarb am 1. September 1991 im Bezirkskrankenhaus Günzburg an den Folgen schwerer Verletzungen aufgrund eines Verkehrsunfalls.