Wir stehen vor auf den ersten Blick Vertrautem, das sich bei näherer Betrachtung als nicht ganz so überschaubar erweist.
Der Rote Faden
Von Rolf Mackowiak
Alltag
„Der Alltag hat uns wieder“ lautet einer der Stoßseufzer nach einem Wochenende. Alltag, das ist Routine. Eine Abfolge von Tagen, die nur wenig Überraschendes mit sich bringen. „Alltagsgrau“ ist einer der Begriffe, die damit verbunden sind. Der Alltag versinkt in der Fülle der Dinge, die wir immer machen und die daher nicht bemerkenswert sind.
Was alltäglich ist, ist eben nichts Besonderes. „Das ist für mich Alltag“ ist nur eine andere Formulierung für den Umstand, daß mich daran nun wirklich nichts überraschen kann.
Für die meisten beginnt der Tag sehr regelmäßig: Aufstehen, Duschen, Frühstück und für viele geht es dann zur Arbeit. Oder sie geht gleich zu Haus los. Vielleicht die Kinder wecken und für die Schule bereitmachen, die Wäsche waschen bzw. die gewaschene Wäsche schrankfertig machen. Der Haushalt hat bekanntlich immer etwas an Arbeit aufzubieten, die meistens nicht sehr aufregend ist.
Aber geschieht dem Alltag damit nicht grobes Unrecht? Man kann es ja auch ganz anders sehen: das Wunder des ständig Wiederkehrenden.
In der Frühzeit der Menschheit war es durchaus nicht selbstverständlich, daß die Sonne am nächsten Tag wieder aufgeht. Die Erfahrung sprach zwar dafür, was aber, wenn böse Mächte die Sonne einfach verschlangen?
Heute wissen wir es besser und der Sonnenaufgang hat nichts Magisches mehr an sich – von einem ganz spektakulär gefärbten Morgenhimmel einmal abgesehen.
Haben wir es wirklich verlernt, den Reiz des ständig Gleichen zu genießen? Der Erfolg z. B. der „daily soaps“ oder der fast unausweichlichen Koch- und Rateshows spricht doch eher dagegen. Da wird ja nichts sensationell Neues präsentiert. Es ist die ständig neue Abfolge des irgendwo und irgendwann schon einmal Gesehenen, eben des Gewohnten.
„Wir treiben eher in Richtung Mittelmaß als zum Außergewöhnlichen“ („We’re rather shifted to the average than to the exceptional.“) heißt es in dem Stück „Thick as a brick“ der Band Jethro Tull. Irgendwie scheint dieses Mittelmaß suspekt zu sein. „In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod.“ lautet ein anderer Satz, der das Alltägliche – eben das Mittelmaß – so negativ bewertet.
Aber wie wäre das Leben, wenn es uns ständig mit dem Außergewöhnlichen, nicht Erwarteten konfrontieren würde? Sehr chaotisch, will ich meinen. Es gäbe ja kaum noch Verläßliches, immer müßten wir auf der Hut sein, was denn hinter der nächsten Ecke lauert. Nicht gerade ein Entspannungsprogramm.
Da hätten wir schon einen wichtigen Punkt. Wir würden viele körperliche und geistige Ressourcen mit diesem ständigen Alarmzustand verschwenden. Indem der Tag Verläßlichkeit bietet, läßt er uns Raum. Wie wir diesen Raum dann füllen, bleibt uns überlassen.
Die frühen Jäger und Sammler waren durchaus nicht die ganze Zeit aktiv und mit der Jagd oder anderen Tätigkeiten zum reinen Überleben beschäftigt. Es blieb ihnen viel Zeit für die soziale Ebene des Lebens. Ein durchstrukturierter Tag wäre für sie wohl sehr befremdlich und deutlich zu anstrengend gewesen.
Wie hätten Kunstwerke wie die Höhlenmalereien und anderes entstehen können, wenn nicht reichlich Zeit dafür vorhanden wäre? Nehmen wir mal ein Monument wie Stonehenge. Da wurde ja eine unglaubliche Menge an Kraft und Zeit investiert, um es zu bauen. Es nötigt uns heute noch Respekt ab, wie es den Altvorderen gelang. Es gab ja keine Kräne oder Seilwinden, um die tonnenschweren Teile in Position zu bringen. Auch wurde nicht irgendein Material verwendet, das quasi um die Ecke lag, sondern es wurde manchmal über hunderte Kilometer transportiert.
Ich habe neulich einen Bericht über Steinkugeln in Costa Rica gesehen. Es wurden bislang etwa 350 Kugeln mit einem Durchmesser von wenigen Zentimetern bis zu 2 Metern gefunden. Erstaunlich ist vor allem die Präzision, mit der die Kugeln gefertigt wurden. Bei einer Kugel von über 2 Metern Durchmesser lag die Abweichung von der Idealform bei gerade einmal 5mm. Das bedeutet einen immensen Aufwand an Zeit, um diese Genauigkeit zu erreichen.
Wir können heute nur mutmaßen, was die Erzeuger dieser Kugeln antrieb. Sicher ist aber, daß es auch heute noch eines immensen Aufwands bedürfte, sie in Handarbeit herzustellen. Da hatten wohl einige reichlich freie Zeit…
Ähnlich kann man wohl die Modellbauer sehen, die ja beträchtliche Zeit auf ihr Hobby verwenden. Da wird oftmals nicht „von der Stange“ gekauft, sondern in akribischer Kleinarbeit alles selbst hergestellt.
Das mag man belächeln, aber das Ergebnis nötigt doch Respekt ab. Vor allem mit den modernen Möglichkeiten der elektronischen Steuerung sind sehr komplexe Szenarien darzustellen.
Nur der Alltag mit seinen Routinen verschafft uns die Zeit, Außergewöhnliches zu erreichen. Für mich ist z. B. der Sport ein Bereich, zu dem ich kein rechtes Verhältnis habe. Sicher ist es beeindruckend, welche Leistung da erbracht werden. Man darf nur nicht die Sinnfrage stellen, denn es mutet im Zeitalter der Motorisierung doch etwas seltsam an, wenn Menschen auf dem Rad bemüht sind, eine Strecke in Stunden zurückzulegen, die mit dem Auto in einem Bruchteil der Zeit zu schaffen ist.
Da geht es eben um mehr, als in einer bestimmten Zeit von A nach B zu gelangen. Es ist die persönliche Leistung, die im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Ich habe dazu, wie bereits angemerkt, nicht so das rechte Verhältnis. Da bin ich aber nicht ganz konsequent. Ich finde Snooker – eine besondere Art des Billiards – z. B. eine sehr interessante Sache. Aber wenn ich begründen sollte, warum es so faszinierend ist, wenn zwei Menschen an einem großen Tisch (ca. 3,57 x 1,78 m oder 12 x 6 Fuß) stehen und mit etwa 1 ½m langen Holzstäben versuchen, den Spielball auf eine bestimmte Weise auf andere Kugeln zu lenken, dann muß ich passen. Da kann ich dann nur rationalisieren, mir also eine Erklärung zurechtlegen. Wirklich begründen, worin für mich die Faszination besteht, kann ich ehrlicherweise nicht.
Ist nicht gerade das so faszinierend am Alltag? Wir stehen vor auf den ersten Blick Vertrautem, das sich bei näherer Betrachtung als nicht ganz so überschaubar erweist. Ich erinnere mich dabei an Fotos, die nur einen kleinen Ausschnitt einer Szene oder eines Gegenstandes zeigen. Es fällt oft sehr schwer, den Gegenstand/die Situation anhand dieses Ausschnitts eindeutig zu identifizieren bzw. sie einzuordnen.
Es wohnt dem Alltäglichen also etwas durchaus Abgründiges inne. Ein Erlebnis in meiner Jugend war so ein Aufreißen des Vertrauten. Die Tür des Wohnzimmers führte auf einen T-förmigen Flur. Schräg rechts gegenüber der Tür stand ein Garderobenschrank mit Spiegeln an der Tür. Eines Tags stand diese Tür ein wenig offen, so daß der Spiegel in Richtung der Wohnzimmertür wies. Als ich das Wohnzimmer durch diese Tür verließ, sah ich, wie ich mir selbst entgegenkam – und war natürlich über diese Unmöglichkeit im ersten Moment sehr erschrocken. Auf den zweiten Blick klärte sich die Situation und diese Unmöglichkeit wurde wieder zur Realität einer Spiegelung.
Das Unvertraute im Vertrauten zu entdecken ist für mich immer wieder eine spannende Erfahrung.