Wenn mir etwas nicht fehlt, weil ich es gar nicht kennenlernen kann, dann hat dieser Verzicht einen Beigeschmack.
Der Rote Faden
Von Rolf Mackowiak
Gleichheit
Gleichheit läßt sich in der Mathematik am leichtesten feststellen. Beide Seiten einer Gleichung müssen denselben Wert haben. Am einfachsten ist das bei numerischer Gleichheit zu sehen. Bei Flächeninhalten wird es etwas komplizierter. Die Fläche eines Dreiecks, Rechtecks oder anderer Vielecke läßt sich leicht ermitteln. Schwierig wird es aber schon beim Kreis. Da ist eine exakte Berechnung nicht möglich, weil die Flächenformel A = ?2 × r mit ? einen Faktor enthält, der unendlich viele Nachkommastellen hat.
Praktisch hat das in unserem Alltag wenig Bedeutung. Nehmen wir einfach mal die Münzen in unserem Portemonnaie – die können wir leicht an ihrer Größe unterscheiden.
Gleichheit braucht oft einen Bezugsrahmen, d. h. auf welche Größe bzw. welchen Umstand sich die Gleichheit bezieht. Bleiben wir bei dem Beispiel der Münzen. Sind sie von gleicher Größe, gleichem Gewicht oder von gleichem Wert?
Mir ist bei der Diskussion über den 75. Geburtstag des Grundgesetzes eine Nuance bei dem Punkt der Gleichberechtigung aufgefallen. Da wurde manchmal sehr feinsinnig zwischen Gleichheit, Gleichartigkeit oder Gleichwertigkeit unterschieden. So dreht man dem GG mal ganz schnell eine Nase. Einige, nämlich die Männer, sind da ganz nach Orwell etwas gleicher als die anderen. Eine faktische Gleichberechtigung auf allen Ebenen des Lebens ist nach diesen 75 Jahren noch längst nicht erreicht. Eine Schande für diese Demokratie.
Verlassen wir den Bereich der Übersichtlichkeit. Kein Ei gleicht dem anderen wie ein Ei dem anderen. Schon bei Hühnereiern gibt es da merkliche Differenzen. Eineiige Zwillinge sehen sich zwar zum Verwechseln ähnlich – aber was ist mit der Persönlichkeit? Da kann man wohl kaum mit Identität rechnen.
Besonders wichtig wäre mir eine größere Gleichheit bei den sozialen Verhältnissen. Ich habe in anderen Beiträgen schon darauf hingewiesen und will mich da nicht wiederholen. Stöbern Sie ruhig ein wenig.
Was bedeutet Gleichheit in Bezug auf die soziale Seite des Lebens? Diese so einfach anmutende Frage hat es in sich. Es gehört ja zu den Gründungsmythen der Bundesrepublik, daß alle nach der Einführung der DM mit den gleichen 40,- DM Startgeld angefangen hätten. Da wird dann ausgeblendet, daß es sehr viele Menschen gab, denen schon zu der Zeit mehr als diese 40 DM gehörten, nämlich Grundbesitz u. ä. Da von gleichen Startchancen zu reden, grenzt schon an Verlogenheit.
Bei meiner Recherche im Internet ergab die Suche nach „soziale Ungleichheit Bundesrepublik“ sehr unterschiedliche Fundstellen. Sie reichten von „weniger Ungleichheiten“ (Quelle: die Bundesregierung) bis „Wer in Deutschland arm ist, bleibt arm.“ in der ZEIT.
Vor allem bei der Einschätzung der Bundesregierung habe ich mir doch verwundert die Augen gerieben. Die Untersuchungen, die ich zu dem Thema kenne, bieten ein anderes Bild. In keinem Land der EU ist der Bildungserfolg so sehr vom sozialen Status der Eltern abhängig wie in der BRD. Gleiches gilt für die Vermögensverteilung.
Da kommen mir Schlagzeilen wie „Privathaushalte so reich wie nie“ wie aus einer anderen Realität vor. Mir fällt dazu ein Satz von Wolf Biermann ein: Man kann auch mit der Wahrheit lügen. Denn die eben zitierte Aussage sagt ja eben nichts über die Verteilung dieses Reichtums aus. Suggeriert wird aber, daß es allen materiell besser geht. Man muß kein Schelm sein, dies als durchaus absichtsvoll zu werten.
Nun muß Ungleichheit nicht gleichzeitig Ungerechtigkeit bedeuten. Ich habe meine Eigenheiten, und diese Unterschiede zu anderen sind mir schon wichtig. Was mich an solchen Ungleichheiten vor allem stört: wenn sie dazu führen, daß ich von etwas ausgeschlossen werde. Selbst wenn es mich nicht interessiert, möchte ich zumindest die Möglichkeit haben, daran teilzuhaben. Ob ich von dieser Möglichkeit Gebrauch mache, ist dann allein meine Entscheidung.
Diese Freiheit der Entscheidung trifft für mich oft auf eine ganz banale Grenze: Ich kann sie mir nicht leisten. Ein Auto der Oberklasse ist für mich verzichtbar; dies gilt für alle Autos. Der Verzicht auf weite Reisen setzt mir gleichfalls nicht zu; ich bin ein sehr „stationärer“ Mensch. Mir nicht die neuesten Bücher leisten zu können – schade, aber kein Weltuntergang.
Dennoch bleibt bei mir ein Gefühl des Unbehagens. Wenn mir etwas nicht fehlt, weil ich es gar nicht kennenlernen kann, dann hat dieser Verzicht einen Beigeschmack. Vielleicht wäre eine bestimmte Erfahrung für mich sehr wichtig. Ob dem wirklich so ist, bleibt aber aus Mangel an der Möglichkeit, die entsprechende Erfahrung auch zu machen, für mich nicht entscheidbar.
Ich bin damit von Entfaltungsmöglichkeiten ausgeschlossen. Ich bin aber wie ein Baum, der der Sonne der Erkenntnis entgegenwachsen will.