Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Rückblick

Rückblick

Ein kurzer Blick auf das letzte halbe Jahr und was mich in ihm beschäftigte.

Bis Mitte Dezember letzten Jahres war ich obdachlos, und das meint wirklich ohne Unterkunft z. B. im Café Plattform oder ähnlicher Einrichtungen. Ich hatte also im Wortsinn auf der Straße gelebt und ge­schlafen.

Ich will mich gar nicht groß über die Schwierigkeiten auslassen, die das mit sich brachte. Das ist zwar nicht banal, führt aber auch nicht weiter als zu einem ausgiebigen Lamento. Auf diese Zeit blicke ich als einen Abschnitt meines Lebens zurück, der jetzt Episode ist (und hoffentlich bleiben wird). Mich interessiert daran mehr, was bleibt und welche Ausblicke sich damit verbinden.

Ein wichtiger Punkt: Ich habe in der Obdachlosigkeit ein deutlich positiveres Bild von meinen Mit­men­schen gewonnen, denn ich bin im Laufe der Zeit viel Freundlichkeit begegnet, die ich so nicht erwartet hatte. Sicher gab es auch Ignoranz und Unverständnis für meine Lage, aber das war eher die Ausnahme. Wenn ich von Passanten angesprochen wurde, überwog doch ein echtes Interesse an mir und meiner Situation. Die häufigste Frage war, wie ich denn in die Obdachlosigkeit geraten war. Das war und ist für mich gar nicht so einfach zu beantworten. Was sachlich dahinter stand, war der einfache Teil. Warum ich es im Grunde geschehen ließ, ohne mich dagegen zu stemmen, lässt sich nicht so einfach erklären.

Kurz gesagt: Ich war mir selber nicht wichtig genug. Erklärt das aber wirklich etwas? Ich habe vor lan­ger Zeit mal einen Satz gehört oder gelesen, der in eine ähnliche Richtung weist: Ohne mich fehlt mir was. Und diese Lücke war mein Kernproblem, weil ich sie überwiegend mit Alkohol zu füllen versuch­te. Der Alltag auf der Straße frisst jede Menge Zeit und hielt mich wirksam davon ab, über Dinge nach­zudenken, die über die Notwendigkeiten des Tages hinausgingen. Und es war natürlich auch viel bequemer. Wie ich es gerne sage: Wenn man einen Blick in den Spiegel wirft, sollte man nicht dem Spiegel die Schuld für das geben, was er zeigt. Also habe ich diesen Spiegel die meiste Zeit verhängt und lieber in die Flasche geschaut.

War ich zufrieden mit meinem Leben? Eindeutig nicht, aber ich war zu träge, um daran etwas zu än­dern. Es lief ja alles. Frühstück in der Schervier-Stube, wo es dann oft noch etwas zu Essen auf den Weg gab (auch Duschen konnte man dort und sich mit sauberer Kleidung versorgen), bei schlechtem Wetter war da noch die Wärmestube im Gasborn, wo man günstig einen Kaffee bekam und in den meisten Fällen auch ein Mittagessen. Zwar nicht umsonst, aber günstig.

Alternativ zog es mich in die öffentlichen Bibliotheken. In der Uni-Bibliothek konnte ich einen Groß­teil meiner Habe in einem Schließfach lassen und war dann bis 24 Uhr diese Sorge los. Außerdem habe ich dort immer die aktuellen Tageszeitungen gelesen (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rund­schau und wenn ich dann noch aufnahmefähig war, Die Tageszeitung (taz))

Damit war locker die Hälfte des Tages ausgefüllt, ich konnte zwischendurch zum sogenannten „Pen­ner-Rondell“ (zwischen Wüllnerstr. und Marienbongard) gehen, um dort zu lesen und zu trinken. Der näch­ste Netto-Markt war nah und Alkohol damit leicht verfügbar.

„Lesen“ ist ein wichtiges Stichwort. Ich kann mir ein Leben ohne Bücher nicht vorstellen, und vor der KHG steht ein öffentlicher Bücherschrank, aus dem ich mich gern bediente. (Das hat sich auch nicht ge­ändert.)

Das klingt vielleicht fast nach Idyll, aber das geriet mit dem Lockdown aus den Fugen. Mir brach ein wichtiger Teil meiner persönlichen Infrastruktur weg, als sowohl die Uni-Bibliothek als auch die Stadt­bibliothek in den Lockdown gingen. Zum einen musste ich nun meinen gesamten Besitz immer mit mir herumschleppen, zum anderen gab es keinen Ort mehr, an den man sich bei schlechtem Wetter zurückziehen konnte. Das hatte zur Folge, dass mir immer mehr von meinem Besitz einfach gestohlen wurde, denn wer kann schon den ganzen Tag ein Auge auf seine Sachen haben?

An Orten wie der Elisengalerie oder AquisPlaza ist man als erkennbar Obdach­loser nicht wohl gelit­ten, d. h. man wird von den Leuten der Security sehr schnell herauskomplimen­tiert: Als Kunde will­kommen, als Mensch bloßer Störfaktor.

Das zählt für mich zu den größten Demütigungen der Obdachlosigkeit: In meiner Stadt, in der ich ja seit Jahrzehnten wohnte, auf Bereiche zu treffen, zu denen mir der Zugang verwehrt wurde. Dies nicht wegen der Gesetze, sondern wegen des Eigentumsrechts

Wie ich schon sagte, lebe ich jetzt nicht mehr auf der Straße. Was hatte diese Veränderung bewirkt? Nun, der Alkohol forderte seinen Tribut. Es gelang mir immer weniger, meine „Normalität“ aufrecht zu erhalten. Ich verwahrloste – nicht nur äußerlich – zusehends und verlor immer mehr den Kon­takt zum Leben. Eines Tages stürzte ich und kam ins Krankenhaus. Dort wurde ich wieder aufge­päppelt und gewöhnte mich langsam wieder an einen geregelten Tagesablauf. Als dauerhafte Er­innerung an den Sturz bleibt mir bis heute eine eingeschränkte Bewegungsfähigkeit des rechten Arms und insbe­sondere der rechten Hand, so dass ich mir erst mühsam das Schreiben mit der linken Hand an­trai­nieren musste. Das ist immer noch „work in progress“.

Dank meiner Betreue­rin fand ich dann einen Platz im „Haus Martin“. Dort habe ich ein geräumiges Zimmer. Die Möblie­rung war anfangs ein wenig karg (Bett, Nachttisch, Tisch, Stuhl und Kleiderschrank. Dazu kamen dann im Laufe der Zeit noch eine Couch, ein Couchtisch und ein sehr niedriges Bauteil, das eine Verbindung aus flachem Regal und Sideboard darstellt. Mehr brauche ich auch nicht.

Mit dem Einzug in das Zimmer wurde ich auch Teil einer Wohngruppe, die gegenwärtig 8 Personen umfasst. Gemeinschaftlich genutzt werden Küche/Wohnzimmer und 3 Bäder/Toiletten. Das Zusam­menleben ist recht locker organisiert. Jeder von uns muss im Wechsel bestimmte Aufgaben über­neh­men, z. B. Kochen. Der einzig zwingende Termin ist ein wöchentliches Gruppengespräch, die restliche Zeit unterliegt keinen Einschränkungen. Es herrscht natürlich absolutes Alkoholverbot. Für mich eher gewöhnungs­bedürftig als anstrengend. Mit einer Ausnahme, bei der ich selbst nicht sagen kann, was denn nun letztendlich dazu führte.

Ich habe jetzt einen ordnenden Rahmen, durch den ich mich kaum eingeschränkt fühle, oder anders gesagt: Die Restriktionen durch die Corona-Pandemie sind deutlich stärker zutage getreten als die Hausregeln. Es bleibt mir unbenommen, das Haus tagsüber zu verlassen, wenn auch eine Abmeldung nötig ist. Ein wenig stört mich, dass bei der Rückkehr ins Haus eine Anmeldung an der Tür nötig ist.

Was mich anfangs in größerem Maße verstörte, war ein anderes Erlebnis, bzw. zwei Erlebnisse, auf die ich in so unterschiedlicher Weise reagierte, dass es mich noch heute verwundert. Dazu muss man wissen, dass ich unter einer sogenannten generellen Angststörung leide, und diese Ängste können sich an fast allem festmachen.

Ich war erst ein paar Tage im Haus Martin, und die Umgebung war mir weitgehend unvertraut, weil sie früher einfach nicht zu meinem „Einzugsgebiet“ gehörte. Ob man es glaubt oder nicht: Ich bin mehrere Stunden durch die Gegend geirrt, ohne wieder zum Haus Martin zurückzufinden. Klar war ich sauer auf mich, so total die Orientierung verloren zu haben. Dazu kam die einsetzende Dämme­rung, und in der bin noch orientierungsloser. Aber zu meiner großen Überraschung war bei mir nie der Impuls vorhanden, mich zu betrinken – auch als ich einen Tankstellen-Shop betrat, um mir etwas zu trinken zu kaufen. Schließlich war ich so entnervt, dass ich zum Bahnhof ging und von dort aus ein Taxi nahm.

Das zweite Erlebnis war wesentlich unspektakulärer, hatte aber heftigere Wirkung. Es war Wochen­ende und am folgenden Montag musste ich das erste Mal für die Gruppe kochen. An sich kein Pro­blem, denn ich hatte vor Jahren den Haushalt meines Vaters geführt, der nach einem Schlaganfall dazu nicht mehr in der Lage war. Kochen war also kein Neuland für mich. Dennoch erfüllte mich das ganze Wochenende eine starke Unruhe und der Zweifel, ob mir das denn gelingen würde.

Zum Glück treten diese Angstzustände nicht allzu häufig auf, aber wenn sie mich dann im Griff haben, bin ich im Extremfall praktisch handlungsunfähig. Wer nicht mit solchen Angststörungen vertraut ist, wird vielleicht kein rechtes Bild davon haben, wie sie sich auswirken. Ängste – na ja, wer hat die nicht? Aber das ist eine gravierende Fehleinschätzung, denn diese Ängste durchdringen das ganze Leben. Es ist ja keine bestimmte Angst vor definierten Situationen, sondern gewissermaßen ein ständiger Alarmzustand, in dem man sich befindet. „Irgendetwas“ könnte ja passieren, und dieses Irgendetwas ist verdammt groß. Es ist ja nicht so, dass ständig etwas Negatives geschieht, aber allein die Möglichkeit eines solchen Geschehens wirkt lähmend. Es könnte ja ...

Ich vergleiche das gern mit den Galliern in den Asterix-Bänden. Die Gallier haben ja vor nichts Angst -außer davor, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Und genauso fühlen sich solche Angst­zu­stän­de an. Es nutzt gar nichts, wenn man sich (zu Recht) sagt, dass nichts passieren kann. Prompt flüstert einem die Angst zu „Und wenn doch?“

In der letzten Zeit bin ich von solchen Angstzuständen verschont geblieben, dazu helfen dann auch therapeutische Gespräche in der PIA. Aber es haben sich natürlich im Laufe der Jahre Verhaltensmus­ter eingeschliffen, die weiter wirksam sind.

Bin ich jetzt zufrieden mit meinem Leben? Ein eingeschränktes, aber eindeutiges Ja. Natürlich unter­liege ich bestimmten Einschränkungen, und die gravierendste ist der Punkt Finanzen. Ich bekomme ein monatliches Taschengeld von 100,- €, dazu kommen dann noch Geld für die wöchentlichen Ein­käufe von Lebensmitteln. Das Mittagessen ist umsonst, denn jeder, der mit dem Kochen an der Reihe ist, bekommt 20 € für die Zutaten. Das Restgeld muss dann aber abgerechnet werden.

Ein kurzes Fazit bzgl. meiner Lebensumstände: Ich fühle mich seit langem wieder lebendig und habe dazu noch die Muße, meinen Interessen nachzugehen. Was natürlich in der Hauptsache Lesen bedeutet. Ich hoffe auf ein baldiges Ende des Lockdowns, bin da aber nicht sehr optimistisch. Ich lasse mich aber gern eines Besseren belehren.

Welche Veränderungen wünsche ich mir für die Zukunft? Da wäre zuerst natürlich eine eigene Wohnung, denn bei allen Annehmlichkeiten ist mein Zimmer eben nichts Eigenes, nicht zu vergessen die finanziellen Einschränkungen. Aber eingeschränkt wird mein Leben bleiben, auch in einer eigenen Wohnung.

Da wäre es natürlich schön, wenn ich mir über einen kleinen Job etwas größeren Spielraum ver­schaffen könnte. Aber das ist (fast) so unkalkulierbar wie das Wetter.