Der Kanon der sogenannten Weltliteratur ist vor allem westlich geprägt und auch da alles andere als umfassend.
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Weltliteratur
Weltliteratur – das klingt so allumfassend, daß es schon mißtrauisch machen sollte. Oder anders gesagt: Welche Welt meine ich dann? Die gesamte sicherlich nicht. Der Kanon der sogenannten Weltliteratur ist vor allem westlich geprägt und auch da alles andere als umfassend. Sie betrifft wesentlich Westeuropa und Nordamerika.
Von dem diesjährigen Literatur-Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah habe ich jedenfalls noch nie gehört, und aus den Literatur-Journalen im Radio weiß ich, daß ich damit nicht allein bin. Afrika ist bis auf Ausnahmen in diesem Genre nicht vertreten. Ausnahmen bestätigen da eher die Regel. Auch Gurnah, in Kenia geboren, lebt und schreibt schon länger in England. Aber auch andere Kontinente und Kulturen führen bestenfalls ein Nischendasein. Selbst das räumlich so nahe Osteuropa ist weitgehend literarische Terra Incognita. Mir fallen zwar einige Namen ein (Czeslaw Milosz, Wislawa Szymborska, Jaroslav Seifert), aber über eine oberflächliche Kenntnis geht das nicht hinaus. Über aktuelle Literatur aus Osteuropa weiß ich gar nichts.
Trotz einer nicht gar so kleinen Zahl an türkischen Mitbürgern fällt mir außer Orhan Pamuk kein türkischer Autor ein, der der Beachtung in der Kritik für Wert befunden wurde. Die Welt der Weltliteratur ist also eine mit durchaus großen blinden Flecken. Und bei diesem Blick ist derselbe auch noch auf Literaturen beschränkt, die als Bücher gedruckt werden. Aber in weiten Teilen der Welt gibt es nur die mündliche Überlieferung, und auch die Bibel ist erst Jahrhunderte später in eine Schriftform gebracht worden. (Ich wundere mich immer wieder, wenn sie so dargestellt wird, als sei sie in Stein gemeißelt. Dabei ist die ursprüngliche Sprache nicht einmal so eindeutig zu bestimmen. War es Aramäisch? Griechisch und Latein traten jedenfalls erst mit erheblicher Verspätung auf den Plan.)
Was also ist mit den Literaturen, die es nur in mündlicher, nicht aber in schriftlicher Form in der Überlieferung gibt? Naturgemäß ist die Verbreitung solcher Literaturen schon einer regionalen Beschränkung unterworfen. Ich habe einmal einen Satz gehört, der die Situation solcher Literaturen trefflich beschreibt: Mit jedem alten Menschen stirbt eine Bibliothek. Auch Sprachen sind in diesem Sinn auf die rote Liste der bedrohten Arten zu setzen. In 100 Jahren wird es viele Überlieferungen geben, die vielleicht von Ethnologen aufgezeichnet wurden, deren Sprache aber dann kaum einer mehr kennt, geschweige denn spricht.
Weltliteratur als Begriff ist also eine gewaltige Täuschung. Es hängt auch sehr von der Qualität der Übersetzung ab, ob ein Buch die Chance zu einer weiteren Verbreitung hat. Mir stehen nur zwei Sprachen zur Verfügung, in denen ich in die Originale hineinschnuppern kann: Englisch (ganz passabel) und Spanisch (ausbaufähig), aber ich habe auch erlebt, wie ich an der Übersetzung gezweifelt habe und verzweifelt bin.
Ich nehme hier als Beispiel einmal Stieg Larssons „Millennium-Trilogie“. Im Deutschen heißen die drei Bände knapp „Verblendung“, „Verdammnis“ und „Vergebung“. Ich bin mal an eine englische Ausgabe des ersten Bandes geraten, deren Titel „The Girl With the Dragon Tattoo“ immerhin einen Bezug zu einer der Hauptpersonen, nämlich Lisbeth Salander, hat. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, nur mit einem Wörterbuch bewaffnet, die schwedischen Originaltitel zu übersetzen. Das Ergebnis: „Männer, die Frauen hassen“ (eine Aussage, die sich auch mehrfach im Buch findet), „Die Frau, die mit dem Feuer spielt“ und „Wenn Luftschlösser zerplatzen“.
Derartige Brüche in der Übersetzung kenne ich und bin daher bei ihnen skeptisch. Ich kann mich dabei nur darauf verlassen, daß die Übersetzenden nicht nur die Fremdsprache, sondern darüber hinaus ihr Metier beherrschen. Überprüfen kann ich das nur selten.
Ich will jetzt die Gilde der Übersetzer – die übrigens bei ihrer Wichtigkeit schändlich unterbezahlt sind – nicht pauschal be- oder verurteilen, aber bei manchem habe ich doch das Gefühl, sie/er wolle dem Autor mal zeigen, was er wirklich gemeint hat.
Wenn man diese Einschränkungen bedenkt, dann schränkt sich die Gültigkeit des Begriffes Weltliteratur noch ein wenig ein. Dazu kommt aber noch ein anderes Problem, nämlich das der kulturellen Unterschiede. Wenn Rita Mae Brown, deren Krimis in Virginia spielen, das soziale Miteinander der Menschen beschreibt, dann wirkt es manchmal wie der Bericht über eine fremde Ethnie. Es gibt in jeder Gesellschaft eben ungeschriebene Regeln, die dem Leser nur mit einer in den Text eingeflochtenen Erklärung verständlich werden. Um wieviel schwieriger ist das zu leisten, wenn sich die Kulturkreise wesentlich stärker unterscheiden. Wenn für die Autorin/den Autor eine Situation hinreichend beschrieben ist, muß das für mich als Leser nicht in gleichem Maße gelten. Auch der Übersetzer braucht dafür mehr als nur die Kenntnis der Sprache, er muß auch soziale Implikationen erkennen und sichtbar machen können.
Dennoch finde ich es wichtig, sich mit solchen Literaturen zu beschäftigen, aber manchmal frage ich mich auch, woher ich die viele Zeit eigentlich hernehmen soll. Das erinnert mich an ein Foto von der New Yorker Buchmesse, wo eine junge Frau ein T-Shirt mit dem Aufdruck „So many books, so little time“ (So viele Bücher, so wenig Zeit) trug. Wie wahr.
Es ist ja schon schwer genug, der Literatur des eigenen Landes auf der Spur zu bleiben. Die Zahl der Neuerscheinungen allein in Deutschland umfaßt Zehntausende von Büchern. Das kann kein Mensch bewältigen, und so sind die Sendungen und Artikel zur Literatur wichtige Wegweiser. Warum in einer solchen Situation die Intendanten von Radio und Fernsehen offenbar der Meinung sind, das sei zu viel, erschließt sich mir nicht. Aber schon die politischen Journale im Fernsehen sind ja über die Jahre deutlich im Umfang geschrumpft. Dazu kommt die Tendenz, wichtige Informationen ins Internet auszulagern.
All das macht es umso wichtiger, Literatur als ergänzende Quelle zu nutzen. Ich glaube, es war Paul Klee, der den Satz prägte: „Kunst bildet nicht ab, sie macht sichtbar.“ Genau darum geht es – auch – in der Literatur. Dieses Sichtbarmachen war im Titel der Autobiografie der irischen Schriftstellerin Nuala O’Faolain „Nur nicht unsichtbar werden“ thematisiert.
Ganz notwendig kommt ein Großteil der Informationen, die ich aufnehme, aus dem mir vertrauten Umfeld, und das ist in erster Linie nun mal Deutschland bzw. die deutsche Sprache. Umfassendere Eindrücke kann mir dabei die Literatur zugänglich machen. Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen sind sicher wichtige Quellen, aber man sollte sich auch nicht davon blenden lassen. Schon die Auswahl eines bestimmten Blickwinkels in einem Fernsehbericht kann einen trügerischen Eindruck erwecken, weil er eben nur einen Ausschnitt darstellt. Da hilft es nur, den eigenen Kopf auch zum Denken zu nutzen.
Von dem Philosophen Immanuel Kant stammt der Satz „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Seien Sie also kein Feigling.