Das Magazin

Lacaton & Vassal

Das Architektur-Duo Anne Lacaton (*1955 in Saint-Pardoux, Frankreich) und Jean-Philippe Vassal (*1955 in Casablanca, Marokko) wurde 2021 für ihre ökologisch, ökonomisch sowie sozial durchdachten Projekte mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet. 

Lacaton und Vassal lernten sich Ende der 1970er in ihrem Architekturstudium an der École Nationale Supérieure d’Architecture et de Paysage de Bordeaux kennen. Beide erlangten ihren Abschluss 1980. Lacaton entschied sich dafür, ihre Studien an der Bordeaux Montaigne University mit dem Schwerpunkt Stadtplanung zu vertiefen. Sie erhielt ihr Diplom 1984. Währenddessen arbeitete Vassal zwischen 1980-1985 als Stadtplaner in Niger (Westafrika). Lacaton besuchte Vassal dort häufiger. Beide waren zunächst überrascht von der Architektur, die im Kontrast zu ihren gelernten Studieninhalten stand, doch sie fühlten sich mehr und mehr inspiriert von der einfachen, ressourcenschonenden Bauweise in der kargen Landschaft.

Vassal beschrieb seine Zeit dort als sehr lehrreich: „Niger is one of the poorest countries in the world, and the people are so incredible, so generous, doing nearly everything with nothing, finding resources all the time, but with optimism, full of poetry and inventiveness. It was really a second school of architecture.“ („Niger gehört zu den ärmsten Ländern der Erde, und die Menschen dort sind so unglaublich, so großzügig, sie erschaffen nahezu Alles aus Nichts, treiben Rohstoffe auf, aber mit Optimismus, voller Poesie und Ideenreichtum. Es war wie eine zweite Lehre der Architektur.“)

Lacaton und Vassal beobachteten und analysierten gemeinsam die dortigen Wohnformen und das Leben der Menschen vor dem Kontext ihrer individuellen Wohnsituationen, und überdachten ihre zuvor erlernten Architekturkonzepte.

1984 realisierten Lacaton und Vassal ihr erstes gemeinsames Bauprojekt: sie entwarfen eine Strohhütte in Niamey, Niger.

Aus ihren Studien, Erfahrungen und Beobachtungen entwickelten Lacaton und Vassal ihre eigenen Grundprinzipien des Bauens und gründeten 1987 ein Architekturbüro.

Das gemeinsame Büro von Lacaton und Vassal befindet sich in Paris und ist inzwischen weltweit vernetzt; Planunterlagen für Bauprojekte in verschiedenen Ländern werden parallel erarbeitet - darunter kulturelle und akademische öffentliche Gebäude, private Wohngebäude sowie Wohnformen für sozial Benachteiligte, stadtplanerische Projekte und kollektiv nutzbare Freiräume. Nebenbei sind Lacaton und Vassal viel unterwegs - im Laufe der Jahre lehrte Lacaton als Gastprofessorin an mehreren Hochschulen verschiedener Länder, und seit 2017 ist sie Professorin an der ETH Zürich. Auch Vassal war weltweit an mehreren Hochschulen als Gastprofessor tätig. Seit 2012 ist er als Professor an der Universität der Künste Berlin angestellt.

Lacaton und Vassal legen bei ihren Gebäudeentwürfen größeren Wert auf den Innenraum als auf die Gestaltung der Gebäudehülle – im Vordergrund steht das Wohngefühl, quasi eine Idee davon, wie Menschen sich in den zukünftigen Räumlichkeiten bewegen, und welche möglichen physischen und psychischen Auswirkungen aufgrund der Raumgestaltung zu erwarten sind. Die Gebäudefassade und ihre Materialien werden meist spät im Entwurfsprozess thematisiert.

Ob Neubau oder Sanierungsprojekt - die räumliche Umgestaltung eines Ortes durch Lacaton und Vassal beinhaltet immer, alle vorhandenen Qualitäten zu berücksichtigen und möglichst in den Entwurf einzubeziehen. Ein gutes Beispiel dafür ist ein privates Wohnhaus, das 1998 in Cap Ferret (Frankreich) realisiert wurde: keine der 46 Pinien auf dem Grundstück wurde gefällt, um Platz für das Gebäude zu schaffen. Das Haus schwebt auf schmalen Stützen zwischen den Bäumen, mit Aussicht über die Bucht von Arcachon. Einzelne Pinien sind in das Gebäude integriert – die tragende Stahlkonstruktion wurde um einige der Baumstämme herum gebaut. Die Stämme sind durch Gummimanschetten mit beweglichen Lichtkuppeln verbunden – so können die Schwankungen der Bäume aufgenommen werden. Der Erhalt der Vegetation bietet nicht nur ästhetische Vorteile – die Pininen fungieren zudem als natürlicher Sonnenschutz und verhindern die Winderosion der Düne.

Mit dem Haus Latapie, einem zweigeschossigen Wohnhaus in Floirac (Frankreich; 1993), erregte die Arbeit von Lacaton und Vassal erstmals öffentliche Aufmerksamkeit, auch außerhalb Frankreichs. Die Besonderheit an dem Haus, das an sich eine schlichte Formsprache aufweist und aus einfachen Materialien besteht, ist das rückseitig angeschlossene luftige Volumen aus transparenten Wellpolycarbonatplatten auf einer Holzkonstruktion. Durch diese Raumerweiterungsstrategie entsteht ein gewächshausähnlicher Wintergarten, vorteilhaft für die Klimatisierung und Belichtung des Gebäudes und gleichzeitig bemerkenswert kostengünstig. Lacaton umschrieb die Vorteile dieser Konstruktion: „From very early on, we studied the greenhouses of botanic gardens with their impressive fragile plants, the beautiful light and transparency, and ability to simply transform the outdoor climate. It’s an atmosphere and a feeling, and we were interested in bringing that delicacy to architecture.“ („Schon sehr früh studierten wir die Gewächshäuser in botanischen Gärten mit ihren beeindruckend fragilen Pflanzen, dem schönen Licht und der Lichtdurchlässigkeit, und dem Vermögen das Außenklima zu transformieren. Es ist eine Atmosphäre und ein Gefühl, und wir wollten diese Feinheit in die Architektur bringen.“) Dieses Gestaltungselement nahm im Laufe der Jahre eine zentrale Rolle in Lacatons und Vassals Projekten ein: viele ihrer Entwürfe beinhalten zumindest gewisse Elemente oder Versatzstücke eines Gewächshauses.

Inzwischen haben Lacaton und Vassal einige Mietwohnungsblocks in Frankreich (klimatisch) saniert und erweitert, darunter Tour Bois le Prêtre (2011) am Rand von Paris. Da die Standards für Sozialwohnungen unterschritten wurden, sollte das Wohnhochhaus mit 96 Appartments auf 16 Stockwerken abgerissen werden. Lacaton und Vassal stellten gemeinsam mit dem Architekten Frédéric Drout einen Antrag auf bauliche Intervention, um den Abriss zu verhindern.  Zusammen transformierten sie den Tour Bois le Prêtre mit minimal invasiven Eingriffen in die Bausubstanz: die ursprüngliche Fassade wurde entfernt und alle Wohneinheiten wurden nach außen hin rund um das Gebäude mit Variationen ihres „Gewächshaus“-Prototyps um drei Meter Grundfläche erweitert, gestützt von Betonmodulen, um großzügige, flexible Räume zu schaffen. Während des Bauprozesses konnten die BewohnerInnen im Haus bleiben, und trotz der Sanierungsarbeiten blieben die Mieten gleich. Der Umbau des Tour Bois le Prêtre verursachte nur ein Drittel der Kosten des Kostenvoranschlags für Abriss und Wiederaufbau und ist gleichzeitig deutlich ressourcenschonender. Dieses simple, klar umgesetzte Erweiterungskonzept konnten Lacaton und Vassal zusammen mit den Architekten Frédéric Drout und Christophe Hutin auch auf den Umbau von drei Mietswohnhäusern mit insgesamt 530 Wohneinheiten im Grand Parc in Bordeaux 2017 anwenden. Auch diese Gebäude sollten ursprünglich abgerissen werden, doch die ArchitektInnen konnten einen Abbruch verhindern und die ursprünglichen Wohnräume wie beim Tour Bois le Prêtre mit vorgebauten Balkonen, Terrassen und Wintergärten um Raum, Licht und Luft ergänzen.

Lacatons und Vassals Auszeichnung mit dem Pritzker-Preis ist ein wichtiges Signal für eine Architektur, die einen starken Nachhaltigkeitsansatz verfolgt – auch in Bezug auf das soziale Klima.