Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Alter

Überhaupt bin ich der Meinung, dass Alter ebenso wenig eine Schande ist, wie Jugend ein Verdienst.

Wenn ich beim Rasieren zu intensiv in den Spiegel schaue oder leichtsinnigerweise die Treppe zu meinem Zimmer hochgehe, befällt mich manchmal das Gefühl: Jetzt bist du alt. Ich bin jetzt 66, aber im alltäglichen Leben ist das nur eine Zahl. Zwar bin ich nicht mehr so fit wie früher, ich gehe aber auch noch nicht am sprichwörtlichen Stock. Wenn ich dann darüber nachdenke, muss ich mich mit dem unan­­genehmen Gedanken auseinandersetzen, dass ich selbst bei optimistischer Sichtweise schon min­destens zwei Drittel meines Lebens hinter mir habe. Also erlaube ich mir ein wenig Schwermütigkeit: Ich bin alt.

Aber was macht dieses Alter aus? Nur die Zahl allein kann es ja nicht sein. Es komme mir jetzt niemand mit der „Lebenserfahrung“. Die ist nicht halb so viel wert, wie mancher glauben machen will. Ich kann auch heute noch ganz schön bescheuert sein.

Scherzhaft sage ich manchmal, ich hätte mein „Wohlfühlalter“. Das ist natürlich gelogen – wenigstens zum Teil. Wenn ich zum Beispiel jüngere Frauen sehe (und für mich sind – gefühlt – die meisten jünger), dann würde ich gerne noch mal einige Jahrzehnte von meinem Alter abziehen. Da ist eben vieles nur noch Erinnerung…

Aber hat das Alter nicht auch seine Reize? Für mich schon. Als ich 20+ war, kamen mir Frauen jenseits der 40 beinahe steinalt vor. Heute wirken sie geradezu jugendlich auf mich. Etwas Positives hat das Ganze also für mich: Schönheit ist vielgestaltiger geworden, und das nicht nur in der eben skizzierten Hin­sicht. Ich habe ja wirklich eine Menge erlebt und entsprechend viele Erinnerungen. Es kommen auch laufend neue Eindrücke hinzu und was mich im Laufe der Jahre nie verlassen hat, ist meine Neugier. Vielleicht ist das das entscheidende Kriterium: Nicht dem Irrglauben zu verfallen, ich wisse schon alles. Das finde ich nämlich das Boshafte am Tod: Dass er mir weitere Erfahrungen vorenthält.

Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass Alter nicht nur eine Frage der gelebten Jahre ist, sondern viel mehr damit zu tun hat, welche Einstellung ich dem Leben gegenüber einnehme. Ich übersehe ja nicht die Einschränkungen, die das Alter mit sich bringt – dafür bringen die sich schon passend in Erinnerung. Aber mein Leben besteht deshalb doch nicht nur daraus. Ein praktisches Beispiel aus meinem Leben. Vor einiger Zeit hatte ich mir bei einem Sturz die rechte Schulter ausgekugelt. Die wurde wieder eingerenkt, aber es blieben am Anfang merkliche Einschränkungen zurück. Die rechte Hand konnte ich kaum zum Greifen gebrauchen und auch der Arm insgesamt war nicht voll funktions­fähig. Der Arzt im Krankenhaus meinte, ich müsse mich wohl darauf einstellen, die Hand nie mehr voll benutzen zu können. Ich hatte mir geschworen, ihn zu widerlegen. Ganz ist mir das noch nicht gelun­gen, doch jetzt versuche ich wieder, mit der rechten Hand zu schreiben. Das ging lange wegen der fehlenden Feinmotorik nicht so recht. Es funktioniert zwar noch nicht perfekt, aber ein Anfang ist gemacht, und an dem werde ich nicht stehenbleiben.

Ich nehme diese Einschränkung ja nicht einfach hin, zumal sie nur das Handschriftliche betrifft. Mit der Computer-Tastatur komme ich ganz gut zurecht, und manchmal muss eben die linke Hand die rechte unterstützen. Wie sonst auch wäre dieser Text zustande gekommen?

Bin ich also zufrieden mit meinem Alter? Mit den oben genannten Einschränkungen ganz gewiss. Überhaupt bin ich der Meinung, dass Alter ebenso wenig eine Schande ist, wie Jugend ein Verdienst.

Das sage ich in „alter Frische“.