Von Oscar Wilde stammt der Satz, das ganze Elend der Menschheit käme daher, dass einige sich zu wichtig nähmen.
Der Rote Faden
Von Rolf Mackowiak
Verstörungen
Die Nachrichten der letzten Wochen und Monate brachten mir einen Film in Erinnerung, den ich vor vielen Jahren einmal gesehen habe. Er heißt Koyaanisqatsi, was nach meinem Wissen ein Wort aus der Sprache der Hopi ist und so viel bedeutet wie „Welt im Umbruch“ oder „Welt im Zerfall“.
Man kann den Film im weitesten Sinne als Dokumentarfilm bezeichnen. Es findet sich aber kein kommentierendes Wort im Film, dieser wird allein von der Musik von Philip Glass untermalt.
Es ist schon ewig her, dass ich diesen Film gesehen habe, aber eine Bildsequenz daraus ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben.
Zuerst ist da die Luftaufnahme einer Stadt mit ihrem Straßen- und Häusergeviert. In dieses wird bis in die mikroskopische Tiefe gezoomt, und zwar in die Architektur eines Mikrochips. Beides vermittelt den Eindruck einer rechteckigen Gestalt. So unterschiedlich die Objekte sein mögen, die Struktur ist gleichartig.
Im Laufe der Zeit ist aus diesem visuellen Eindruck ein Satz bei mir entstanden: Wir denken eckig, aber wir leben rund. Diese Gegensätzlichkeit lässt sich an einem Beispiel festmachen. Jeder kennt einen Globus, und wer sich nur ein wenig mit Kartografie auskennt, weiß um die Probleme, die die Umsetzung der gewölbten Erdoberfläche in die Ebene einer Landkarte bereitet. Die ganze Euklidische Geometrie ist eine Geometrie der Ebene, die bei der Krümmung der Erdoberfläche nur in kleinem Maßstab greift. Im Grunde ist also eine Landkarte absolut unrealistisch – und doch können wir uns erfolgreich damit orientieren.
Wir leben ja seit geraumer Zeit im Zeitalter von COVID-19, also Corona. Vielleicht liegt es an den damit verbundenen Einschränkungen, wenn diese Zeit mir als eine der permanenten Katastrophen erscheint, vielleicht liegt es aber auch an einem veränderten Fokus der Berichterstattung, aber mir drängt sich der Eindruck auf, kaum sei eine unheilvolle Situation in der Erinnerung am Verblassen, da hebt die nächste ihren Finger und meldet sich.
Dabei habe ich nicht nur Naturkatastrophen wie das Hochwasser in der Eifel, die Waldbrände in der Türkei und Griechenland oder den USA im Blick. Auch politisch lebe ich ja in interessanten Zeiten: Der Putsch des Militärs in Myanmar, der permanente Rechtsbruch in Polen, das Regime in Belarus und ganz gegenwärtig die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Eben: Welt im Zerfall.
Dabei wird mir immer wieder bewusst, welches Glück wir in Westeuropa haben. Wie leben praktisch auf einer Insel der Seligen, und bei allen Problemen in den Einzelstaaten kann man die EU doch als richtig stabil bezeichnen.
Sind diese politischen Verwerfungen schon beunruhigend genug, so verstärkt sich diese Unruhe, wenn ich die Protagonisten solcher Ereignisse betrachte. Was bringt solche Personen dazu („Mensch“ mag ich da nur bedingt sagen), gegen die eigene Bevölkerung zu wüten? Von Oscar Wilde stammt der Satz, das ganze Elend der Menschheit käme daher, dass einige sich zu wichtig nähmen
Es ist ja nicht so, dass diese Personen diese Ereignisse ganz allein auf die Beine stellten. Da braucht es eine ganze Entourage an Mitläufern und Profiteuren. Was bringt solche Personen dazu, ihre eigenen Interessen über die anderer zu stellen?
Das sind Fragen der Motivation solcher Personen. Aber ebenso drängend finde ich die Frage nach der Kompetenz der Akteure. Wenn ich mir beispielweise vor Augen führe, dass der Einsatz der Bundeswehr immerhin 20 Jahre dauerte, dann kann ich den Dilettantismus beim Abzug der deutschen Soldaten – die immerhin ihr Leben riskiert haben – einfach nur noch mit Kopfschütteln quittieren. Es lässt sich bislang nicht in vollem Umfang sagen, in welchem Maße da gepfuscht wurde, aber selbst die Grundzüge der Ereignisse werfen bei mir die Frage auf, wozu die entscheidenden Politiker ein Gehirn besitzen, wo sie es doch so offensichtlich nicht zum Denken benutzen.
Leidtragende dieses Unvermögens sind in diesem Fall die afghanischen Menschen. War man nicht um derentwillen in diesen Einsatz gegangen? Oder war das nur ein vorgeschobenes Argument? Ich weiß nicht genug über die damaligen Entscheidungen, um das zu bewerten, aber ein Blick auf die Folgen dieses Handelns zeigt unübersehbare Defizite und die sprechen nicht für die Akteure.
Ist es in anderen Situationen ähnlich? Ist es immer eine unheilvolle Mischung von Machtgier und Inkompetenz? So ganz kann das nicht stimmen, denn in der Vertretung der eigenen Interessen zeigen sich solche Personen erschreckend kompetent. Es bleiben als Resümee nur einige Zeilen von Wolf Biermann: Was ist der Mensch dem Menschen? Ein Gott der lacht, ein Tier das weint? Nur seinesgleichen ist der Mensch so leichte Beute.
Auf einer anderen Ebene erfasst mich ähnliches Unverständnis. Betrachte ich den Zustand der Welt unter dem Blickwinkel der Nachhaltigkeit des menschlichen Verhaltens, dann erinnere ich mich an einen Satz von Hoimar von Dithfurth, einem Wissenschaftler und Journalisten. Kurz vor seinem Tod gab er ein Interview, und sein Fazit in diesem Punkt gipfelte in dem Satz: „Der Versuch der Natur, ein vernunftbegabtes Wesen zu erschaffen, ist gescheitert.“
Nun ist das sicher sehr pointiert gesagt, aber hatte er damit nicht recht? Es fehlt uns ja nicht an Wissen über den Zustand der Welt, aber wir scheinen unfähig zu sein, dieses Wissen in praktisches Handeln umzusetzen. Markantes Beispiel ist der Autoverkehr. Viele ärgern sich darüber, aber wer verzichtet deswegen schon auf den Komfort des eigenen Autos? Ich habe ja Verständnis dafür, wenn jemand auf dem Land lebt und einfach nur sehr geringe Möglichkeiten hat, darauf zu verzichten. Aber was ist mit den Städten? Wie kommt es, dass der Anteil von SUVs im Straßenverkehrt solche Ausmaße angenommen hat? Von den Neuzulassungen fallen über 30% in diese Kategorie. Große, schwere und viel Parkraum ver-brauchende Autos machen etwa ein Drittel der Fahrzeuge aus. Vernünftig?
Ein anderer Punkt ist die Zersiedelung der Landschaft. Wohnraum in der Stadt ist für viele unerschwinglich, aber das führt zu einer weiteren Zersiedlung der Landschaft und damit verbunden zu einer Versiegelung der Böden, die deshalb den Regen nicht mehr aufnehmen können. Auch die Landwirtschaft trägt dazu bei, weil schwere Maschinen ebenfalls zu einer Verdichtung der Böden führen.
Wir wissen dies alles, aber welche Folgen hat das für unsere Lebensführung? Nur sehr geringe. Ich übersehe dabei nicht, dass dieses Verhalten für den Einzelnen oft nicht vermeidbar ist, doch vermisse ich Bemühungen, die zu Grunde liegenden Strukturen überhaupt zu ändern. Welcher Umstand ist es, der uns so betriebsblind handeln lässt? Ich will mich davon gar nicht ausnehmen. Auch ich verwende Papiertaschentücher, Küchenrollen und was im Haushalt noch so dazu kommt. Es ist ja auch so bequem. Aber vernünftig? Ich bin immer wieder gefangen in diesem Widerspruch, zwischen dem, was ich weiß und der Art, wie ich handele.
Es gibt ja einen qualitativen Umschlag von individuellem Handeln und der Wirkung, wenn sich ein solches Handeln millionenfach wiederholt. Wie es in einem Bonmot so schön heißt: Du stehst nicht im Stau, du bist der Stau.
Eines sei dabei nicht vergessen: Ich argumentiere dabei aus meiner saturierten Welt heraus. Die Brandrodungen in Amazonien sind sicher für das Weltklima schädlich. Sie entwickeln ihre Schädlichkeit aus der Tatsache heraus, dass da im großen Maßstab Waldflächen vernichtet werden. Jedoch werden diese Flächen oft für den Soja-Anbau verwendet, der nach Europa exportiert wird. Stünde nicht jeder Einzelne auch als Verbraucher zur Verfügung, wäre das nicht so profitabel. Auch hier ein Umschlag individuellen Verhaltens in schädliches. Ich würde es aber gar nicht aushalten, mir bei jedem Einkauf darüber Rechenschaft abzulegen, wie mein Verhalten wirkt, wenn es von anderen geteilt wird.
Das Leben ist unübersichtlich, und deshalb blicken wir eben oft nur durch eine Lücke im Zaun.