Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Verantwortung

Wir greifen wie Goethes Zauberlehrling in die natürlichen Abläufe ein und machen große Augen, wenn all unsere Rationalität und Technik nicht reichen, diesen Schein der Beherrschbarkeit zu wahren.

Die Überflutungen in Deutschland, aber auch die verheerenden Brände in der Türkei, Griechenland und Italien haben mich an einen Begriff erinnert, den ich vor langer Zeit einmal gelesen habe. Er stammt von dem deutschen Philosophen Günther Anders. Der Begriff lautet „prometheische Scham“.

Anders meint damit, dass wir Menschen auf Grund unseres Verstandes Dinge und Umstände schaffen können, denen wir in letzter Konsequenz nicht gewachsen sind.

Wir leben in der Vorstellung, die Welt um uns sei beherrschbar. Aber jede Naturkatastrophe zeigt uns, auf welch schwankendem Boden wir uns da bewegen. In Deutschland haben wir gerade mit den Über­flutungen in Nordrhein-Westfalen bzw. Rheinland-Pfalz einen schlagenden Beweis für die Brüchigkeit dieser Vorstellung erhalten. Die nähere Umgebung ist den Menschen dort zur feindlichen geworden. Es brauchte dazu nur Regen und Sturm, und unsere Welt lag buchstäblich in Trümmern. Wir greifen wie Goethes Zauberlehrling in die natürlichen Abläufe ein und machen große Augen, wenn all unsere Rationalität und Technik nicht reichen, diesen Schein der Beherrschbarkeit zu wahren.

Für mich verbindet sich damit noch ein anderer Begriff: dem des sogenannten „menschlichen Versa­gens“. Auf den wird oft zurückgegriffen, wenn ein Mensch in einer Gefahrensituation falsch reagiert hat und damit den Schaden noch vergrößert. Ich denke dabei an den Fall eine falsch gestellte Weiche oder eines ignorierten Signals. Oder an die atomaren Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima.

Was macht dieses „menschliche Versagen“ aus? Kurz gesagt: Ein Mensch steht vor der Situation, dass er die Technik, die er bedient, im Kern nicht mehr beherrschen kann, er also überfordert ist. Man kann das auch auf alltäglichere Situationen herunterbrechen: Der LKW-Fahrer, der wegen Übermüdung in einen Sekundenschlaf fällt und in dieser kurzen Zeit des Kontroll-Verlustes einen Unfall verursacht. Worin aber besteht dieses Versagen? Der Fahrer steht unter Zeitdruck. In den vergangenen Jahrzehn­ten sind die Autobahnen gewissermaßen zu Außen-Lagern des produzierenden Gewerbes geworden. Die Lieferung „Just in Time“ soll Lagerkosten einsparen. Das bedingt eine zeitlich straff koordinierte Lieferung von Material, die auf Störungen des zeitlichen Ablaufs empfindlich reagiert.

Gerade aktuell sind Produktionseinschränkungen im Automobilbau, weil dringend benötigte Mikro­chips nicht lieferbar sind, die Lieferkette also unterbrochen ist. Hier ist die Verantwortlichkeit weniger greifbar als im Fall des übermüdeten Fahrers. Corona kann man schließlich nicht gerichtlich belangen.

Bleiben wir bei dem Fahrer. Heute wird ja gern das Wort von systemischen Zwängen verwendet. Damit soll angedeutet werden, dass es sich dabei um gewissermaßen unabwendbare Zustände handelt. Aber wer setzt diese Regeln? Ist die Lieferung „just in time“ tatsächlich so voraussetzungslos? Eher nicht. Diese – vermeintlichen – Zwänge sind mehr oder weniger willkürliche Setzungen, die in der Regel mehr an öko­no­­mischen Maßstäben orientiert sind denn an sachlichen Erwägungen. Die direkte Verant­wortung liegt zwar beim Fahrer, aber wie ist um die Verantwortung der Menschen bestellt, die durch die Einführung solcher Strukturen an diesen Ereignissen ebenfalls beteiligt sind? Sie werden, wenn sie sich nicht ganz dumm anstellen, selten belangt.

Es gibt ein besonders absurdes Beispiel. In der Nordsee werden Krabben gefangen und dann gleich an Bord des Kutters gekocht. Die weitere Verarbeitung erfolgt aber nicht in Deutschland. Sie werden per LKW nach Marokko gefahren, dort gepuhlt und dann wieder nach Deutschland zurückgebracht. Dieser Widersinn ist nur deshalb profitabel, weil die Löhne in Nordafrika so gering sind. Die geringeren Kosten basieren also auf einer Ausbeutung der Arbeitskraft nordafrikanischer Menschen.

Die Zuwanderung von Menschen nach Europa soll ja u. a. dadurch abgewendet werden, dass die Gründe für ein Verlassen des Heimatlandes beseitig werden, indem die Lebensum­stände in diesen Staaten verbessert werden und damit ein Grund für die Emigration entfällt. Klingt gut und logisch. Das hat nur einen Haken: Die EU-Handelspolitik macht genau das Gegenteil. So hat sich die EU die Fang­rechte vor der westafrikanischen Küste für den sprichwörtlichen „Apfel und ein Ei“ auf Jahrzehnte gesichert. Welche Chancen haben die Fischer Westafrikas mit ihren traditionellen Methoden gegen die Flotte der Fabrikschiffe aus Europa, aber auch aus anderen Staaten? Keine.

Ein anderer Fall. In Ghana gab es einen florierenden und profitablen Tomatenanbau. Bis die EU auf die glorreiche Idee kam, die ohnehin schon hoch subventionierten europäischen Tomaten auf den ghanai­schen Markt zu bringen. Die Folge: Der Tomatenanbau in Ghana brach zusammen und viele ghanaische Menschen arbeiten jetzt in Italien – im Tomatenanbau.

Dies zeigt, wie widersinnig Entscheidungen in der Wirkung sein können, die für sich genommen nicht einer gewissen Logik ent­behren, wenn man die übergeordneten Zusammenhänge außer Acht lässt.

Wir Menschen sind es einfach nicht gewohnt (oder zu bequem), unser Handeln in solchen Zusammen­hängen zu sehen. Wer sich morgens einen Coffee to go kauft und den Becher dann in den Papierkorb wirft (Ich bin mal optimistisch), macht sich nicht viele Gedanken darüber, welche Auswirkungen das auf die Umwelt hat, wenn dies massenhaft geschieht.

Ähnlich sieht es ja mit der Elektromobilität aus. Keine Abgase, evtl. weniger Lärm. Prima! Aber woher kommt dieser Strom? Etwa aus Kohlekraftwerken? Und was ist mit den Rohstoffen für die Akkus, namentlich Lithium? Unter welchen Belastungen für Umwelt und Menschen wird das gewonnen? Ein Problem, auf das ich in dem Zusammenhang gar nicht gekommen wäre, stellt ein merkwürdiges Verhalten einiger Nutzer von E-Scootern dar. Statt sie einfach irgendwo wieder abzustellen, werden sie in den Fluss geworfen und das in beträchtlicher Anzahl (siehe Köln und Hamburg). Mich wundert dabei auch, dass die Vermieter dieser Scooter den hundertfachen Verlust ihrer Fahrzeuge so klaglos hingenommen haben, denn umsonst sind sie ja nicht in deren Besitz gekommen. Ein kalkulierter Kollateralschaden?

An den Beispielen kann man sehen, dass durchaus ein großer Unterschied in der Verantwortlichkeit bestehen kann. Wie ich mit einem geleerten Kaffeebecher umgehe, liegt direkt in meiner Verant­wortung. Andere werden sozusagen anonym an mich herangetragen. Ich muss ja keinen E-Skooter benutzen, aber wenn ich es tue, sollte ich mir auch der Implikationen bewusst sein.

Noch indirekter wird meine Mitverantwortung, wenn staatliche Organe beteiligt sind. Mein Einfluss auf die EU-Handelspolitik ist ja inexistent. Da handeln diese Organe zwar mittelbar in meinem Auftrag als Wähler, aber wie sie den ausfüllen, bleibt weitgehend jenseits meiner Kontrollmöglichkeiten. Auch durch Kaufentscheidungen ist es kaum möglich, das Handeln der Wirtschaft zu beeinflussen. Hier kann nur ein gesamtgesellschaftliches Engagement vieler eventuell eine Änderung bewirken. Sicher aber ist das nicht.

Langsam kommt eine solche Sichtweise aber auch in Politik zum Tragen. Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst in einer Entscheidung dem Gesetzgeber (also dem Parlament und den dort vertretenen Parteien) aufgetragen, bei gesetzlich Regelungen bezüglich der Umwelt auch die Interessen der kommenden Generationen zu berücksichtigen. Inwieweit das von der Politik aufgenommen wird, bleibt für mich aber zweifelhaft. Ich möchte hier nur an den jahrzehntealten Konflikt um die Lagerung von Atommüll erinnern. Es ist für mich immer noch unverständlich, wie dieses Problem behandelt wurde.

Tatsache ist, dass der radioaktive Müll teilweise Jahrhunderttausende, wenn nicht Jahrmillionen weiter eine Strahlenbelastung darstellt. Schon ein Jahrhundert ist für mich ein unüberschaubarer Zeitraum. Die einigermaßen bekannte Geschichte umfasst, großzügig gerech­net, etwa 10.000 Jahre, die Entwicklung der Menschheit 1 bis 2 Millionen Jahre. Und wir hinter­lassen gefährlichen Müll, der weitaus dauerhafter gefährlich ist. Da hat man die Menschen nach uns vor ein Problem gestellt, dessen Größe nur ansatzweise abzuschätzen ist.

Wünschen wir kommenden Generationen mehr Vernunft und damit gepaartes Verantwortungsgefühl. Vielleicht ist da ja der altmodische Begriff „Demut“ in der Hinsicht nicht unpassend.