Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Anarchie

Der Begriff „Anarchie“ ist ein wenig schillernd. Oft wird er mit Unordnung, ja Chaos in Verbindung gebracht. Dabei bedeutet er im Wortsinn nur „Herrschaftslosigkeit“, nicht Regellosigkeit.

Eine, wie ich finde, sehr schöne, informelle Beschreibung dessen, was für mich Anarchie sein könnte, findet sich in einem Lied von Herman van Veen: „Ich hab‘ ein zärtliches Gefühl / für jeden Nichtsnutz, jeden Kerl / der frei umherzieht, ohne Ziel / der niemands Knecht ist, niemands Herr // Ich hab‘ ein zärtliches Gefühl / für jede Frau, für jeden Mann / für jeden Menschen, wenn er nur / vollkommen wehrlos lieben kann.“

Für mich gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen Anarchie und Anarchismus. Ich habe ein tiefes Mißtrauen gegen jede Idee, die zu einem –ismus degeneriert. Am Anfang steht eine Grundidee, im Fall der Anarchie eben der der Ablehnung jeder Herrschaft und Hierarchie. Solche Grundideen, tendieren dazu, sich zu systematisieren. Da können sich kleine Unter­schiede in der Auslegung – ich könnte sie auch Haarspaltereien nennen – zu heftigen Zerwürf­nissen führen. Ich kann mich noch gut an die Vielzahl sogenannter linker Gruppen erinnern, bei denen es schon einen gravierenden Unterschied machte, ob sie sich eher an Mao Tse Tung oder an Lenin orientierten. Von weiteren Spaltungen gar nicht erst zu reden.

Bleiben wir bei der Grundidee der Anarchie, eben der Ablehnung von Herrschaft und Hierarchien. Als Idee ist das ja ganz reizvoll, weil sie den Wunsch widerspiegelt, in Harmonie mit sich und den Mitmenschen zu leben. In der Wirklichkeit aber nur schwer umzusetzen. An der heftigen Auseinandersetzung in der katholischen Kirche mit dem sehr realen sexuellen Mißbrauch zeigt sich, daß auch strenge Glaubensgebote nicht vor schädlichem und schänd­lichem Verhalten schützen.

Der Anarchismus krankt m. E. an einem schweren Fehler, der sich auch in anderen politischen Systemen finden läßt. Er vergißt gewissermaßen den Menschen. Zwar will er den Menschen freier machen, aber er verläßt sich dabei auf menschliche Qualitäten, die eben nicht allge­meingültig sind. Das fängt schon bei Kleinigkeiten an. Wen überrascht es denn wirklich, wenn sich zwei Nachbarn über einen über den Gartenzaun hängenden Zweig eines Baumes derart in die Haare geraten, daß ein Ausgleich dieser widerstreitenden Interessen schlicht unmöglich ist? Auf das politische Großgeschäft übertragen war dies z. B. die Haltung von Bayern und Baden-Württemberg, die zwar gerne Atomkraftwerke in die Landschaft setzten, die notwen­dige Endlagerung der abgebrannten Kernbrennstäbe aber lieber anderen Bundesländern überlassen wollten.

Menschen haben nun einmal unterschiedliche Interessen und Ziele. Sobald die sich ins Gehege kommen, wird es schwierig, denn nach welchen Maßstäben wollte man entscheiden, wessen Interesse im Zweifel Vorrang hat? Es geht also nicht ohne Regeln. Soweit kein Widerspruch zur Anarchie.

Die entscheidende Frage ist, wonach diese Regeln festgelegt werden und vor allem, wer deren Einhaltung kontrolliert. Nehmen wir das in Deutschland verbreitete System des Parlamen­tarismus. Es sind dabei zwei Ansätze denkbar: die Entscheidung nach Mehrheiten oder der Versuch, die widerstreitenden Meinung in der Diskussion zu einem Konsens zu führen und einen für alle akzeptablen Kompromiß zu finden.

Schon der erste Weg ist mühsam. Den zweiten halte ich schlicht für unmöglich, oft auch gar nicht wünschenswert. Soll die Meinung eines evangelikalen Abgeordneten wirklich bei Fragen der Gleichberechtigung oder gar des Schwangerschafts-Abbruchs berücksichtigt werden? Oder die eines AfD-Abgeordneten zur Einwanderung? Ich finde, eher nicht.

Ich brauche ja nur mich selbst zu betrachten. Im Grunde bin ich ein ganz gelungener Mensch. Aber ich kann auch ein ziemlicher Kotzbrocken sein. Anders gesagt: Ich bin nicht schwarz oder weiß, sondern oft hell-, mitunter aber dunkelgrau. Also ganz normal.

Wie also sollte in einer anarchischen Gesellschaft die Meinungsbildung erfolgen? Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Eine reine Entscheidung an der Mehrheit wäre für mich ein Widerspruch zur Grundidee: Eine relative Mehrheit würde über eine relative Minderheit entscheiden – und damit eine Hierarchie etablieren.

Wie der von mir sehr geschätzte polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec es einmal so treffend sagte: Ein Kennzeichen großer Dummheiten ist ihre Logik.