Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Sätze

Ich sammle Sätze. Das mag sich erst einmal etwas seltsam anhören, denn wie sammelt man Sätze?

In dem Fall mache ich es mir einfach: Wenn ein Satz mir gefällt, dann bleibt er mir ganz leicht im Gedächtnis haften, und dort ist er auch gut aufgehoben. Früher hatte ich sie mir mal aufgeschrieben, aber die Notizbücher etc. die ich dafür verwendete, hatten die unselige Eigen­schaft, irgendwann zu verschwinden. Also sind sie in meinem Gedächtnis besser aufgehoben.

Natürlich gehe ich dabei nicht beliebig vor, so wie man als Kind im Herbst Blätter aufhob, bis die ganze Hand voll war – nur um sie dann in den meisten Fällen doch wegzuwerfen. Die Sätze, die ich sammle, müssen schon eine besondere Bedeutung für mich haben.

Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. Es handelt sich um einen Satz aus einem Roman von Irmgard Keun. (Übrigens eine interessante Schriftstellerin, die einen eigenen Beitrag Wert wäre. Mal sehen. Aber da gibt es noch so viele andere…) Ich kann nicht mal mehr sagen, aus welchem ihrer Romane er stammt, aber der Satz selbst ist unvergessen: „Einen Brief macht man auf und zieht etwas heraus, das beißt und sticht, obwohl es kein Tier ist.“

Das Besondere an solchen und ähnlichen Sätzen: Sie haben natürlich einen Bezug zu einer für mich ganz speziellen Situation. Sie reichen aber darüber hinaus auf Situationen, die ähnlich geartet sind, stehen sinnbildlich für diese.

Vielleicht liegt es daran, daß ich ohnehin ein Faible für Aphorismen habe, und auch bei Gedichten schätze ich eine gewissermaßen aphoristische Kürze. Gerade diese Kürze der Sätze und ihre weitergehende Brauchbarkeit machen es für mich reizvoll, sie im Gedächtnis zu behalten.

Bei dem Wort „Aphorismus“ fällt mir ein, daß ich einmal nach einer kurzen Definition dafür suchte und im Duden dafür das Wort „Gedankensplitter“ fand. Nun kann ich mir darunter überhaupt nichts Konkretes vorstellen, aber es hat mich zu einer eigenen Schöpfung veranlaßt: „Aphorismus = Gedankensplitter. Welch Gedanke!“

In gewisser Weise ähneln meine gesammelten Sätze damit Sprichwörtern, aber die haben für mich einen etwas unangenehmen Beiklang. Sie sollen belehren und nicht beschreiben. Die Sätze, die ich sammle, beschreiben eine Situation, meist ohne sie zu werten.

Die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli nannte ihre Autobiografie „El país bajo mi piel“, also „Das Land unter meiner Haut“. Eine andere Autobiografie, die der Irin Nuala O’Faolain, hat den Titel „Nur nicht unsichtbar werden“. Nur ein paar Worte, aber was steckt nicht alles darin, ohne daß ich auch nur eine Zeile mehr zu lesen bräuchte. Lohnt natürlich trotzdem.