Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Anfänge

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ heißt es bei Hermann Hesse. Ganz so magisch wirkt der Anfang des Jahres noch nicht bei mir – aber vielleicht braucht dieser Zauber ja auch noch ein wenig Zeit zum Wirken.

Anfang – das hat doch etwas Verheißungsvolles. Da ist etwas, noch nicht ganz zwar, aber doch mindestens zu ahnen, so wie der Sonnenaufgang den neuen Tag beginnt.

Der Sonnenaufgang ist auch ein passendes Bild für Anfänge, denn er ist ja kein scharf umris­sener Zeitpunkt, sondern braucht seine Zeit, ist fließender Übergang von der Nacht zum Tag. Es gibt Momente, die haben einen festen Punkt auf der Zeitskala, z. B. die stünd­lichen Nachrichten im Radio, aber das ist eher die Ausnahme. Bleiben wir beim Sonnen­aufgang. Wann beginnt er? Mit dem ersten zarten Schimmer am Horizont, dann, wenn sie die Horizontlinie berührt oder dann, wenn sie langsam darüber hinaussteigt? Ganz genau läßt sich das zeitlich nicht festlegen oder beruht auf einer willkürlichen Festsetzung.

Dieses „nicht mehr ganz Nacht und schon etwas Tag“ trifft auf viele Situationen in unserem Leben zu. Wie lange ist man noch Kind, dann schon Jugendlicher und schließlich Erwachsener? Da sind die Übergänge fließend und nicht scharf abzugrenzen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie erwachsen ich mich fühlte, als das Volljährigkeitsalter auch noch von 21 auf 18 Jahre gesenkt wurde. Aber war ich da wirklich erwachsen? Da würde ich mit meinen jetzt fast 68 Jahren doch ein dickes Fragezeichen setzen. Ich kann auch in meinem Alter noch ein ziemlicher Kindskopf sein und finde das keine Beeinträchtigung oder gar ehrenrührig, eher bereichernd.

Anfänge sind, so gesehen, eher Übergänge. Das eine geht, das andere kommt. Ob’s gut ist, was da kommt und geht steht auf einem anderen Blatt.

Geschehnisse sind im Fluß, bauen oft aufeinander auf und sind ebenso häufig alles andere als ein geradliniger Verlauf, sondern mäandern durch die Zeit.

Wir haben von der Zeit ja eine bestimmte Vorstellung als linearem Ablauf, aber daneben besteht noch eine andere Vorstellung von der Zeit als Zyklus. Man braucht nur auf eine analoge Uhr zu schauen, um dieses Prinzip zu erkennen: Die Tage bilden eine sich ständig wiederholende Abfolge, für die Wochen, Monate und Jahreszeiten gilt dasselbe.

In unserem eigenen Leben mischen sich diese beiden Anschauungen. Von der Geburt bis zum Alter gibt es die eben genannten Zyklen, aber beim Leben insgesamt folgen wir doch eher der linearen Zeitanschauung, hat es doch eine eindeutige Richtung.

Anfänge können auch etwas Beunruhigendes haben. Dann nämlich, wenn wir nicht einschätzen können, was aus diesem Anfang erwächst. Ob es sich um eine Erkrankung handelt oder vielleicht eine Trennung, die ja beide eine Vorgeschichte haben. Wir werden aus Zusammenhängen herausgerissen, die uns vertraut erschienen, aber dann müssen wir erkennen, daß wir diese Vertrautheit mit Dauerhaftigkeit verwechselt haben.

Umgekehrt verhält es sich, wenn wir uns aus Umständen befreien, die uns unangenehm oder einengend erscheinen. In dem Fall ist der Aufbruch in neue Lebensumstände befreiend und wir schütteln alten Ballast ab. „Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal“ sagten die Bremer Stadtmusikanten, die in ein selbstbestimmtes Leben aufbrachen.