Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Entscheidungen

Leider gibt es auch Situationen, in denen man sich nicht wirklich richtig entscheiden kann.

Bis gestern war meine Frage, wer außer Olaf Scholz Olaf Scholz noch versteht. Darin bin ich auch heute noch nicht viel weiter. Aber zumindest hat er entschieden – oder so ähnlich. Ganz blicke ich da nämlich immer noch nicht durch. Hat er nun oder hat er nicht? Die Zusage zu Panzerlieferungen an die Ukraine, die ein monatelanges Rätsel blieb, weil Scholz sich partout nicht dazu äußern wollte, ist also entschieden. Sagt man. In einer Woche bin ich sicher klüger.

Die Frage, die sich mir bei dem ganzen Gewürge aufdrängt: Verwechselt Olaf Scholz da nicht Bedächtigkeit mit Bräsigkeit, also der Unfähigkeit oder dem Unwillen, eine Entscheidung zu treffen?

Gern wird ja kolportiert, er wolle sich nicht drängen lassen und seinen eigenen Zeitpunkt für eine Entscheidung wählen. Natürlich erwarte ich von einem Bundeskanzler, daß er weiß was er tut – oder eben nicht. Aber das Argument, je mehr man ihn bedränge, desto unwilliger sei er, seine Entscheidung zu treffen und öffentlich zu machen, erscheint mir eher bedenklich als bedenkenswert.

Wie frei ist eine Entscheidung, wenn ich sie genau dann nicht treffe, wenn sie von mir gefordert wird? Im Grunde beuge ich mich dann denen, die diese Entscheidung einfordern.

Ich habe für solche Situationen mal eine knappe Formulierung geprägt: Gut pariert! Was meine ich damit? „Parieren“ hat ja einen Januskopf. Die erste Bedeutung, die mir dazu einfällt, lautet „gehorchen“. Aber es gibt noch eine andere, nämlich einen Schlag usw. abzuwehren. Faßt man beide Bedeutungen zusammen, so kommt man auf eine sinnfällige Kombination: Indem ich etwas abwehre, gehorche ich meinem Gegner, bin reaktiv, nicht aktiv.

Ob Olaf Scholz eine solche Deutung gefallen würde? Wohl eher nicht.

Aber verlassen wir mal die Ebene der Politik. Wir sind ja jeden Tag vor viele Entscheidungen gestellt: Was wir zu Frühstück essen wollen, welches Verkehrsmittel wir benutzen usw. Meistens also keine großen Sachen, die wir mit Routine und Bravour hinter uns bringen.

Es gibt aber auch Entscheidungen, die uns mehr abverlangen. Nicht immer kann man sich nämlich so einfach für das eine oder das andere entscheiden. Wichtig für eine Entscheidung ist die Frage, was sich aus dieser Entscheidung – vordringlich für mich, aber auch für andere – ergibt. Solchen Entscheidungen geht, je weitreichender die Folgen sind, eine Abwägung voraus. Am Rathaus meiner Heimatstadt Oldenburg ist ein entsprechender Vers am Rathaus buchstäblich in Stein gemeißelt: Erst wäg‘s. dann wag‘s.

Das klingt so schön einfach, daß es einfach nicht wahr sein kann. Wirklich wichtige Entscheidungen fordern uns nämlich keine Wahl zwischen schwarz und weiß ab, sondern man hat es mit Graustufen zu tun. Von mir selbst sage ich gern, ich sei weder schwarz noch weiß, sondern mal hell-, mal dunkelgrau.

Woher nehmen wir die Kriterien, eine Entscheidung zu treffen? Da ist z. B. die Dringlichkeit einer Entscheidung: Schon die Grundsteuer angemeldet? – um ein aktuelles Beispiel zu nennen. Oder geht es nur darum, welche Jacke für das Wetter passender oder aus sonstigen Gründen vorzuziehen ist?

Bei der Wahl eines Neuwagens z. B. wird es schon komplizierter. Verbrenner oder Stromer? Klein und kompakt oder groß und raumgreifend? Leicht und sparsam oder opulent und nicht ganz so kosten­günstig im Unterhalt? Da können je nach persönlichen Verhältnissen und Wünschen noch eine ganze Menge Fragen lauern.

Daran wird eines sichtbar: Je mehr Aspekte eine Sache hat, desto unübersichtlicher kann sie auch werden. Das macht eine Entscheidung nicht leichter. Das führt häufiger als uns lieb ist dazu, daß es keine wirklich gute Entscheidung gibt, die allen Kriterien gerecht werden kann. Da entscheidet man sich dann für den Weg, der am wenigsten Abweichungen mit sich bringt, die wir damit in Kauf nehmen müssen, das sogenannte „kleinere Übel“.

Leider gibt es auch Situationen, in denen man sich nicht wirklich richtig entscheiden kann. Kommen wir nochmal auf die Lieferung der Leopard-Panzer an die Ukraine zurück. Es handelt sich dabei eindeutig um eine Waffe, und die werden nur einmal zum Töten verwendet. Aber glaubt jemand wirklich, das Töten in der Ukraine würde enden, wenn die Panzer nicht geliefert würden? Die russische Aggression stand am Anfang, und das sollte nicht vergessen werden. Putin hat die feste Absicht – soweit man das beurteilen kann – die Ukraine von der Landkarte zu tilgen, mindestens aber als eigenständigen Staat. Welche Chancen hatten die Einwohner von Butscha, den Massentötungen zu entkommen?

Ich finde es geboten, der Ukraine so weit wie möglich mit Waffen zu unterstützen. Aber man sollte nicht den Fehler begehen, Wolodymyr Selinskyj zu einer Lichtgestalt zu stilisieren. Was wirklich fehlt, ist eine Haltung der Bundesregierung und der NATO zu dem gesamten Geschehen, nicht nur dem militärischen. Wie sehr da auf den Entscheidungsebenen Unklarheit besteht, kann man an der Wortwahl erkennen: Soll die Ukraine nicht verlieren oder soll sie gewinnen? Wie wird das definiert?

Der Krieg dauert jetzt fast ein Jahr, und immer noch gibt es nicht einmal im Ansatz Klarheit darüber, wie die Situation nach einem Ende der Kämpfe, vielleicht des Krieges, gestaltet werden soll. Wer kein klares Ziel hat, dem hilft auch kein Navigationsgerät.