Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Armut und Arbeit

Durch Arbeit allein ist noch niemand zu Wohlstand gekommen.

Er sagt, das Beste, um Armut zu überwinden, sei Arbeit. Er – das ist Christian Lindner. Woher er diese Erkenntnis allerdings bezieht, bleibt mir ein Rätsel. Dabei braucht man sich nur die soziale Situation in Deutschland anzuschauen, um in ernste Zweifel zu geraten. Allein die Existenz der sog. „Aufstocker“, also von Menschen, die zusätzlich zu ihrem Arbeitslohn noch ergänzend Bürgergeld beziehen, zeigt doch, daß Arbeit – genauer: deren Bezahlung –  nicht immer ausreicht, den Lebensunterhalt zu bestreiten.

Anders gesagt: Der Mindestlohn ist zu niedrig angesetzt – auch bei Vollzeit. Für die Sozialverbände ist das keine neue Erkenntnis, die aber bislang wenig Eingang in die politische Diskussion gefunden hat – oder großzügig übersehen wird.

Es hängt auch hier von der Perspektive ab: Das Bürgergeld soll ja neben dem Lebensunterhalt auch die „soziokulturelle Teilhabe“ absichern. Das kann man wohl eher unter dem Begriff „Juristenhumor“ ablegen.

Es geistern auch immer wieder Vergleiche durch die Presse, nach denen ein Bezug von Bürgergeld ein gleich hohes Einkommen beschert wie eine reguläre Arbeit. Diese unsinnige Behauptung – schon mehrfach widerlegt – ist so unausrottbar wie Unkraut. Aber es paßt ja so schön in das Narrativ vom arbeitsunwilligen Bezieher von Bürgergeld, der es sich in der „sozialen Hängematte“ (Helmut Kohl) bequem gemacht hat.

Wie ist Armut definiert? Arm ist laut einer Definition der EU, wer weniger als 60 % des durchschnittlich verfügbaren Einkommens hat. Die Quote dafür liegt in Deutschland bei etwa 20 %. Jeder 5. ist also arm oder von Armut bedroht. Wenn man dann in Betracht zieht, daß Deutschland immer noch eines der reichsten Länder weltweit ist, dann stellt sich mir die einfache Frage: Wo bleibt das Geld?

Beim Reichtum stellt sich mir dieselbe Frage wie bei der Armut: Wie ist der Begriff definiert? Eine Definition, die mir sehr gefällt: Reich ist nicht der, der viel hat, sondern der, der mehr hat, als er braucht. Da wird sich mancher Reiche doch eher zu den Armen zählen…

Gerade diese gefühlte Armut der Reichen führt zu manchen seltsamen Erscheinungen. Es sei an die Affäre um die Cum-Ex-Geschäfte erinnert. Noch mal zur Erinnerung: Da ließen sich Leute Geld erstatten – manchmal auch mehrfach – das sie gar nicht als Steuern entrichtet hatten. Kann es sein, daß solche Leute einfach zu viel Zeit haben, weil sie für ihren Unterhalt nicht arbeiten müssen?

Wir sehr dem Staat an der Verfolgung solcher kriminellen Handlungen interessiert ist, kann man an dem Rücktritt der Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker sehen, die sich nach 12 Jahren Ermittlungsarbeit eben nicht ausreichend unterstützt fühlte.

Demnach sind Reichtum und Armut nicht allein an Besitz und Einkommen abzulesen, es gehören auch „weiche“ Faktoren wie soziale Zufriedenheit dazu. Ein Umstand, der bei der Diskussion um Mindesteinkommen oft zu kurz kommt. Übersehen wird dabei, daß Armut in vielen Fällen auch soziale Ausgrenzung mit sich bringt. Das führt auch zu einer geringeren Lebenserwartung und häufigeren Erkrankungen.

Gehe wir auf die andere Seite, die der Arbeit. Was ist Arbeit? In dem Zusammenhang muß man genauer von Erwerbsarbeit sprechen, also von Arbeit, die man für Geld verrichtet. Das scheint einleuchtend, aber genauer besehen wird dabei ein großer Teil der geleisteten Arbeit einfach ausgeblendet. Haushalt und Erziehung z. B. erledigen sich ja nicht von selbst. Auch ehrenamtliche Tätigkeit fällt nicht darunter.

Verkürzt kann man also sagen, daß der Begriff der Arbeit auf Tätigkeiten gegen Bezahlung verengt wird. Die jetzt neuerdings als „Care-Arbeit“ bezeichneten gehören also nicht dazu, obwohl sie gesellschaftlich von erheblicher Bedeutung sind. Wenn die dann z. B. von Pflegediensten geleistet wird, sind sie wieder zur Arbeit geadelt.

Auch da begegnet uns, wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen, eine gewisse begriffliche und, wie ich fürchte, auch gedankliche Unschärfe. Ob damit absichtsvoll bestimmte Aspekte aus der Diskussion genommen werden sollen, bliebe noch zu klären.

Der Begriff „Erwerbsarmut“ steht für den englischen der „working poor“, dem ich wegen der Klarheit den Vorzug gebe. Es gibt also Menschen, die mit einem oder mehreren Jobs nicht genug verdienen, um angemessen leben zu können. Dies traf 2023 auf 19 % der Frauen und 13 % der Männer zu.

„Sozial ist, was Arbeit schafft“ war ein Slogan, der so eingängig wir irrig ist, weil er wichtige Aspekte des Lebens ausblendet. Mir fällt dazu ein Zitat ein: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er stirbt auch am Brot allein.“ (Dorothee Sölle) Wenn wir die Frage der sozialen Gerechtigkeit auf eine finanzielle reduzieren, reduzieren wir auch den Menschen zur Arbeitskraft, die darüber hinaus keine oder nur wenig Bedeutung hat. Mit einem humanen Menschenbild hat das dann aber wenig zu tun.

Armut hat noch einen anderen Aspekt: einen religiösen. In fast allen Religionen gibt Gläubige, die das Leben in Armut für einen Weg zur Erfüllung ihres Glaubens halten. Das benediktinische „ora et labora“, also „bete und arbeite“, war und ist Basis einiger christlicher Orden. Der Protestantismus verband die Frömmigkeit mit materiellem Wohlergehen. Wer auf dem rechte Weg war, für den zahlte es sich eben materiell aus. Das führte auch zu dem Umkehrschluß, wem es wirtschaftlich schlecht ging, dem fehle es wohl am rechten Glauben.

Eine ähnliche Geisteshaltung scheint mir auch heute noch weit verbreitet, wenn auch säkularisiert: Wem es nicht so gut geht, der hat eben seine Chancen nicht genutzt. Dem widerspricht allerdings der Umstand, daß soziale Chancen sehr oft mit der Herkunft eng verbunden sind und unser Bildungssystem zeichnet sich ebenfalls durch eine nur geringe Durchlässigkeit aus: Nicht nur Reichtum wird vererbt, sondern auch die Armut.

All dies ist seit langem bekannt, eine wirkliche Neuorientierung der Politik hat es dennoch nicht gegeben. Erst seit 2001 gibt es den Armuts- und Reichtumsbericht, 2021 erschien der sechste.

Schaut man sich den letzten Bericht aus dem Jahr 2021 an, dann fällt vor allem auf, daß Armut auch regional sehr unterschiedlich verbreitet sein kann. Am wenigsten von Armut betroffen sind die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Brandenburg, die Schlußlichter bilden Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und das Saarland. Nun kann sich niemand aussuchen, in welcher Region er geboren wird. Es gibt aber die Verpflichtung des Bundes, auf die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Deutschland zu achten. Wohlgemerkt: darauf zu achten; von einer Garantie ist nicht die Rede.

Der Bund hat allerdings nur die Möglichkeit, Rahmenbedingungen zu setzen, die Umsetzung obliegt in weiten Bereichen den Bundesländern, die dafür den Anspruch auf eine angemessene Finanzierung haben. Es gibt also ein Ermessen, wie dies genau umgesetzt wird. Wenn man sich die aktuelle Situation anschaut, waren diese Bemühungen bislang nicht besonders erfolgreich.

Mein persönliches Fazit: Durch Arbeit allein ist noch niemand zu Wohlstand gekommen, da hat der finanzielle Hintergrund der Familie einen wesentlich größeren Einfluß und in dem Punkt läßt die Entwicklung wenig für eine Angleichung der Lebenverhältnisse erwarten.