Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Chaos

Eine gewisse „gepflegte Schlampigkeit“ ist also Bestandteil dessen, was wir als wohnlich empfinden.

Als „völliges Durcheinander, wüste Unordnung“ erklärt das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache das Wort „Chaos“. Ich möchte es ein wenig anders formulieren: ein Zustand der Ungeordnetheit. Ich habe mich deshalb für ein Foto des Sternenhimmels entschieden, diesen Artikel zu illustrieren. Denn eines zeichnet den Weltraum ja aus: die Materie in ihm ist sehr ungleichmäßig verteilt. Sie konzentriert sich in vielen Galaxien, die gleichfalls eine Vielzahl von Formen annehmen können. Die meisten zeigen eine mehr oder weniger ausgeprägte Spiral-Struktur, manche sind aber auch kugelförmig, andere dagegen völlig formlos. Also auch da ein Wechselspiel von Ordnung und Ungeordnetheit.

Es wäre eigentlich zu erwarten, daß die Materie immer weiter zu einer gleichförmigen Verteilung kommt. Wenn ich Milch in meinen Kaffee schütte, nimmt er nach kurzer Zeit eine gleichförmige Farbe und damit Verteilung von Kaffee und Milch an. Wäre unsere Kaffeetasse mit dem Weltall vergleichbar, dann blieben im Kaffee Milchklümpchen zurück, die sich nicht mit dem Kaffee vermischen.

Astronomische Bilder, die ja gewissermaßen einen Blick in die Vergangenheit darstellen, sind sich erstaunlich ähnlich. Die ungleiche Verteilung der Materie ist demnach über Milliarden von Jahren sehr stabil geblieben. Die Galaxien bilden miteinander weitere Strukturen aus, sogenannte Galaxien-Haufen. Ein Beispiel eines Galaxien-Haufens ist die Lokale Gruppe, zu der auch unsere Milchstraße gehört und die außer ihr noch die Andromeda-Galaxis und etwa 60 Zwerggalaxien umfaßt. Was sie zu einer Gruppe macht, ist nicht allein ihre Position im Weltraum, sondern ihr Zusammenhalt durch die Gravitation.

Wie sehen also zwei scheinbar gegensätzliche Phänomene: die irreguläre Verteilung der Galaxien und die – zumindest weitgehend – ähnlichen Strukturen. Normalerweise sehen wir Ordnung und Ungeordnetheit (also Chaos) als ein Gegensatzpaar an. Aber im Weltall scheinen beide System nebeneinander zu existieren.

Zurück zum Chaos. Vor einigen Jahrzehnten war das sogenannte „Apfelmännchen“ sehr präsent. Es basiert auf der sog. Mandelbrot-Menge, die nach dem franko-amerikanischen Mathematiker Benoît Mandelbrot benannt ist. Das Apfelmännchen war eine Visualisierung dieser Menge. Auffällig war vor allem, wie ähnlich sich die Strukturen innerhalb dieses Bildes waren, wenn man das Bild vergrößerte und damit weiter in die Tiefe der Struktur vordrang. Wenn mir das Paradoxon gestattet ist: die Abbildung liefert etwas Widersprüchliches, nämlich Chaos mit geordneter Struktur.

Auch da also wieder dieses Zusammenspiel von Ordnung und Ungeordnetheit. Nehmen wir einmal an, es handele sich dabei um keinen Zufall, sondern ein grundlegendes Prinzip: Ordnung und Chaos bilden kein Gegensatzpaar, sondern ein komplementäres System. Sie wären damit die zwei Seiten einer Medaille.

In unserem Alltag erleben wir es ja oft, wie ein mühsam aufgeräumtes Zimmer sich in kurzer Zeit dem Zustand der Ungeordnetheit nähert. Das Zimmer erreicht im Allgemeinen nicht gerade das Chaos, aber es kann schon durch die Unordnung eine gewisse Unübersichtlichkeit erreichen. Ein akkurat aufgeräumtes Zimmer wirkt auf uns aber nicht unbedingt wohnlich, sondern hat einen Hauch von Sterilität. Eine gewisse „gepflegte Schlampigkeit“ ist also Bestandteil dessen, was wir als wohnlich empfinden.                                                                                                            

Diese Doppelgesichtigkeit kann eigentlich kaum überraschen, weil wir ihr auf Schritt und Tritt begegnen. Selten gibt es Dinge, die sich so einfach in ein Gegensatzpaar einpassen lassen. Ist ein Regenschirm nützlich? Bei Regen ganz bestimmt. Kommt dazu aber noch ein stürmischer Wind, der den Schirm erfaßt, kann uns das buchstäblich aus dem Gleichgewicht und damit zu Fall bringen.

In der letzten Zeit war das Wort von der „Ambiguitäts-Toleranz“ in den Medien zu hören. Es beschreibt die Fähigkeit eines Menschen, mit der Uneindeutigkeit einer Situation umzugehen. Dabei begegnen uns solche Situationen täglich. Will der Fußgänger jetzt über den Zebrastreifen oder nicht? Man muß mit beidem rechnen: daß er vorsichtig am Straßenrand wartet oder forsch den Zebrastreifen überquert. Das ist noch recht überschaubar. Wenn dann noch spielende Kinder am Straßenrand dazukommen und von hinten die Sirene eines Krankenwagens zu hören ist, sieht die Sache schon komplizierter aus. Was die Sache für uns ein wenig einfacher macht: Wir können durch unsere Entscheidung und unser Handeln die Situation beeinflussen und unsere Erfahrung mit dem Straßenverkehr läßt die Situation handhabbar erscheinen.

Anders dagegen liegt die Sache, wenn wir mit Umständen umgehen müssen, die nicht unserem Einfluß unterliegen. Die Zuwanderung z. B. findet weitgehend ohne unser Zutun statt, eventuelle Konsequenzen daraus müssen wir evtl. aber mittragen. Das eben erscheint manchem als untragbar und er wünscht sich eine einfache Lösung, die es in den meisten Fällen gar nicht geben kann.

Als Folge davon ist es Teil des Jargons von Politikern geworden, davon zu reden, daß man „die Menschen mitnehmen“ müsse oder so ähnlich. Von „beteiligen“ wird dagegen deutlich weniger oft gesprochen. Aber es ist m. E. sehr wichtig, die Bürger stärker in solche Prozesse einzubinden. Das ist nicht immer einfach, oft auch in der Sache schlicht unmöglich. Ich jedenfalls würde es mir nicht zutrauen, bestimmte Entscheidungen zu treffen, weil mir dazu viel an Hintergrundwissen fehlt. Das wird Politikern oft nicht anders ergehen. Nur eine Meinung zu haben ist aber noch keine Entscheidungskompetenz.

Genau den Eindruck versuchen politische Entscheider aber oft zu vermitteln. Vielleicht gewönne die Politik an Glaubwürdigkeit, wenn ein Politiker einfach mal zugeben könnte, daß er auch nicht weiß, welche Maßnahme denn nun die richtige ist. Mehrdeutigkeiten betreffen alle, und ob es die so oft beschworene „Schwarmintelligenz“ auch wirklich richten kann, bleibt fraglich.