Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Nebenwirkungen

Welchen in Geld ausdrückbaren Wert hat ein aufmunterndes Lächeln? Oder die Zeit, in der man einfach nur zuhört?

Nebenwirkungen sind bei fast allem unserem Tun unvermeidlich. Fallen sie so aus, daß sie dem anvisierten Ziel sogar entgegenwirken, könnte man das auf die kurze Formel „dumm gelaufen“ bringen. Andere Formulierungen wären, je nach Schwere der Umstände, „die Sache hat einen Haken“ oder „die Sache hat einen Pferdefuß“. Auf jeden Fall sind uns solche Situationen nicht unvertraut, sonst gäbe es nicht mehrere Möglichkeiten, sie auszudrücken.

Dabei müssen Nebenwirkungen nicht unbedingt negativ ausfallen. Wenn man im Café sitzt und sich ein angenehmes Gespräch mit anderen entwickelt, ist ja auch das ein Begleitumstand. Aber im Allgemeinen haben sie doch einen eher negativen Beiklang. Dabei bekommt man mehr, als man erwartet hatte, und dieser Zugewinn ist unwillkommen. Man kann es uns aber auch wirklich nie recht machen!

Dabei ist die Existenz der Nebenwirkungen eigentlich nur Ausdruck davon, daß unsere Wirklichkeit nicht einfach linear strukturiert ist, sondern Maschen bildet, in denen wir uns verfangen können.

Ich gebe zu, daß das jetzt so klingt, als könnten wir keinen Schritt tun, ohne uns um irgendwelche Fallstricke sorgen zu müssen. Ganz so schlimm ist es natürlich nicht. Aber es ist wie bei Medikamenten: die meisten zeigen irgendwelche Nebenwirkungen. Ich hatte neulich selbst so einen Fall. Eine Entzündung im Fußgelenk machte jedes Auftreten sehr schmerzhaft. Gegen diese Schmerzen bekam ich ein Medikament, und damit das nicht den Magen schädigt, bekam ich ein zweites.

So geht es oft: Eine Handlung hat mehr als eine Wirkung. In den meisten Fällen kann man sie getrost vernachlässigen. Es widerstrebt uns auch oft, die Nebenwirkungen näher zu betrachten, weil die Folgen dann doch in sehr direkter Weise auf uns selbst verweisen. Ein Beispiel unter vielen sind die Lebensmittel bzw. deren Preis. Den meisten ist klar, daß zu den Preisen Fleisch nicht verträglich für die Umwelt und die Produzenten erzeugt werden kann.

Es gab ja im letzten Jahr eine Aktion eines Discounters, bei der die Waren zu ihren wirklichen Preisen – also einschließlich entstehender Nebenkosten – angeboten wurden. Das war natürlich nur ein Gag, aber einer mit ernstem Hintergrund.

Nehmen wir einmal den Verkehr. Es wird ja eine Umstellung auf Elektrofahrzeuge angestrebt. Das löst zwar auf lange Sicht – vielleicht – einen Teil des Problems des CO2-Ausstoßes, aber nicht die Probleme, die der Individualverkehr notwendig mit sich bringt. Da wäre die Versiegelung von Flächen durch den Straßenbau und der Bedarf an Stellplätzen. Man muß sich vor Augen halten, daß ein Auto die meiste Zeit des Tages nur herumsteht und Fläche verbraucht.

Auch bei den individuellen Kosten des Individualverkehrs sind viele etwas blauäugig, weil sie nur die Kosten für das Benzin/den Diesel sehen. Es kommen aber noch weitere Kosten dazu: Versicherung, Steuern, die Belastung der Straßen, die Folgen von Unfällen, Wertverlust usw. All das ist auch in den Preisen für andere Waren nicht enthalten. Die Lieferung „just in time“ hat die Lagerhaltung auf die Straße gebracht, also an die Allgemeinheit ausgelagert. Wie gefährlich das gesamtwirtschaftlich werden kann, hat die Havarie eines Container-Schiffes im Suez-Kanal gezeigt: Lieferketten waren auf Wochen unterbrochen, und die lassen sich ja nicht so einfach ersetzen. Ähnlich wirken die Angriffe der Huthi im Jemen. Auch da werden Transportwege blockiert und es sind teure Umwege nötig, wenn man nicht im Risiko bleiben will.

Der Satz „Alles hängt mit allem zusammen“ ist so sicher nicht richtig. Aber er verweist uns darauf, daß auch die wenigsten Dinge für sich allein stehen, stehen können. In der immer vernetzteren Welt haben auch ferne Ereignisse lokale Auswirkungen.

„Die Herren machen das selber, daß ihnen der arme Mann Feind wird.“ schrieb Thomas Müntzer im 16. Jhdt. So viel weiter sind wir heute auch nicht. Wenn ich mir die jüngsten Äußerungen von Christian Lindner anschaue, dann droht wieder eine von oben verfügte weitere Verarmung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Die Infamie, die darin steckt: Die Notlage wird individualisiert, also: selber schuld. Die Betroffenen haben also zum Schaden noch den Spott. Erklären Sie einmal einer Alleinerziehenden (fast 90% sind weiblich), sie lebe zu üppig. Wer täglich mit den Fährnissen eines geringen Einkommens oder des Bürgergeldes zu kämpfen hat, wird sich für eine solche Einschätzung herzlich bedanken.

Woher kommt diese Geringschätzung? Man mache sich einmal klar, welche gesellschaftlich wichtige Aufgabe Alleinerziehende (wie andere Eltern natürlich auch) für den Staat erbringen: der Unterhalt und die Erziehung sind wohl die zwei wichtigsten Aspekte. Stellen Sie sich einfach mal vor, diese in den Familien angesiedelte soziale Leistung müßte vollständig in Kitas, Schulen usw. erbracht werden. Faktisch wäre das gar nicht möglich, weil es weder genug Räumlichkeiten und Fachpersonal gäbe, das zu realisieren – vom Geld gar nicht erst zu reden.

Es gibt bei der Bewertung solcher Umstände ein großes Manko, und das ist die fehlende Quantifizierbarkeit z. B. der Pflege. Will man sie nach Minuten messen, nach der Art der geleisteten Hilfe usw.? Es ist schwer, das zu entscheiden. Welchen in Geld ausdrückbaren Wert hat ein aufmunterndes Lächeln? Oder die Zeit, in der man einfach nur zuhört? Dafür gibt es keine allgemeingültige Einordnung, und das macht ihre Repräsentation in Euro und Cent so vergebens.

Aber es muß sich gar nicht um immaterielle Dinge handeln. Welchen Wert hat z. B. eine intakte Umwelt? Da kann man sicher viele wichtige Teilaspekte nennen, die für sich genommen schon bedeutsam sind. In der Gesamtschau führt das dazu, daß die Einschätzung im Ungefähren bleibt, bleiben muß. Schließlich gibt es da auch widerstreitende Sichtweisen. Ist die Rückkehr der Wölfe nun positiv zu betrachten oder nicht? Ein Schäfer hätte da sicher eine deutlich andere Sicht als jemand, der die Diversität der Arten als Wert an sich betrachtet.

Wie schwierig diese Dinge auszutarieren sind, hat sich schon beim Ende der Steinkohle-Förderung gezeigt. Sowohl die sozialen Aspekte als auch die umweltpolitischen erfordern einen immensen Aufwand, und die Folgekosten der Stillegung der Bergwerke nennt man ja nicht umsonst „Ewigkeitskosten“: Das eintretende Grubenwasser muß abgepumpt werden, will man nicht aus weiten Flächen eine Seenlandschaft entstehen lassen.

Ähnlich verhält es sich mit der angeblich so kostengünstigen Atomkraft. Ihre Folgekosten sind gar nicht abzuschätzen, und es wird wohl seine Gründe haben, warum es weltweit noch kein einziges funktionierendes atomares Endlager gibt. Bis jetzt gib es nur Maßnahmen, die auf die Entstehung einer endgültigen Lagermöglichkeit angelegt sind.

Wenn man die Dinge aus einer anderen Perspektive betrachtet, können die Ergebnisse anders ausfallen, als wir es gewohnt sind. Ich weiß nicht mehr, in welchem Buch das Beispiel auftauchte, aber mich hat es überrascht und erheitert, weil gewohnte Sichtweisen durchbrochen wurden.

Die übliche Sichtweise: Je mehr von einem Artikel hergestellt werden, desto geringer sind die Kosten je Einzelstück. Es ging in dem Beispiel um die Herstellung von geflochtenen Hüten. Ein Abnehmer war von deren Qualität und Verkäuflichkeit sehr angetan und er fragte, wie teuer ein einzelner Hut wäre, wenn der Hersteller – eine Einzelperson – mehr davon produzierte. Bei der anvisierten Stückzahl war das Ergebnis wie erwartet: der einzelne Hut wurde billiger in der Herstellung. Als der Abnehmer aber nach dem Preis einer weit höheren Anzahl fragte, bekam er die überraschende Auskunft, daß der Einzelhut teurer würde. Verwundert fragte er nach dem Grund. Nun, sagte der Hersteller, wenn ich diese Anzahl herstellen soll, dann brauche ich Mitarbeiter. Die aber müßten die Arbeit auf ihren Feldern an andere abgeben und dafür bezahlen und diese Kosten machten die Herstellung der Hüte insgesamt teurer.

In unserer arbeitsteiligen Wirtschaft wirkt eine solche Begründung etwas abwegig, aber in der geschilderten Situation ist sie ausgesprochen plausibel.

Es gibt wohl kaum einen Menschen, der sich nicht wenigstens gelegentlich im Internet bewegt. Das ist oft sehr praktisch, hat aber eine deutliche Nebenwirkung. Zum Betrieb nicht nur er einzelnen Computer, auch für die Server brauch man Strom. Eigentlich trivial, aber wenn man sich das genau anschaut, ergeben sich erhebliche Energiemengen, die nur für den Betrieb der Webseiten nötig sind. Dazu gehören neben dem eigentlichen Datentransfer noch der Aufwand für die Kühlung der Server, denn der Verbrauch von Energie ist immer mit der Erzeugung von Wärme verbunden.

Eine andere Art der Nebenwirkung habe ich vor vielen Jahren erlebt. Ich habe im Winter an der Endstation einer Buslinie gestanden. Der Fahrer machte gerade seine Pause und hat mich erst nach einiger Zeit in den Bus gelassen. Ich sagte – durchaus scherzhaft von mir gemeint – ich hätte schon Zweifel gehabt, ob er mich überhaupt einlassen würde. Darauf bekam ich die ärgerlich-verdrossene Antwort, heute habe wohl jeder etwas zu meckern. Ich erwiderte darauf, daß ich nicht geahnt hatte, daß er einen schweren Tag hinter sich hatte und entschuldigte mich. Der Fahrer war danach wie ausgewechselt und sehr freundlich. Ich glaube, er fühlte sich als Mensch wahr- und ernstgenommen, und das hob seine Stimmung.

Kleine Ursache – große Wirkung.