Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Aufgaben

Aber wie schon Kurt Tucholsky feststellte: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Von viel war nie die Rede. Merken Sie das auch manchmal, wenn sie sich die Nachrichten anschauen?

Die nächste Bundesregierung – egal, wie sie aussehen wird –, steht ja vor einer ganzen Reihe von Problemen, die dringend angegangen werden müssten. Ich formuliere das bewußt so verhalten, denn das Vertrauen in ein zielgerichtetes Handeln in Bezug auf diese Probleme ist mir in den vergangenen Jahren so ziemlich abhanden gekommen. Mir kamen die politischen Entscheider oft wie Kinder vor, die sich die Hände vor die Augen halten und dann glauben, was sie nicht sehen ist auch nicht da. Sie befanden sich also gewissermaßen in einem politischen Blindflug. Jetzt soll ich also glauben, dieselben Politiker die im Kabinett Merkel saßen, würden offeneren Auges die gesellschaftliche Realität betrachten? Das überfordert meine Naivität doch ganz erheblich.

Dennoch möchte ich die Felder betrachten, auf denen für mich dringend etwas getan werden müßte. Als direkt Betroffener ist da erst einmal das soziale Gefüge Deutschlands. Seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten wird ja von der sozialen Schieflage gesprochen. Die drückt sich in der sogenannten Einkommensschere aus, aber nicht nur darin. Die Sozialverbände fordern immer wieder eine Erhöhung der Regelsätze der Grundsicherung. Vergeblich.

Dagegen wird gebetsmühlenartig von der steuerlichen Entlastung der Wirtschaft gesprochen. Da wünsche ich mir doch einmal einen Wirtschaftswissenschaftler, der mir erklärt, wie es die so arg vom Fiskus gebeutelte Wirtschaft schafft, immer neue Exportüberschüsse zu generieren. Ist das eine gottgleiche Creatio ex nihilo, oder ist unser Steuersystem gar nicht so leistungsfeindlich? Schließlich sollte niemand die nominellen Steuersätze mit den effektiven verwechseln. Apropos Wirtschaftswissenschaft. Sollte es nicht zu denken geben, daß sie unbeschadet der vielen mathematischen Methoden und Modelle zu den Geisteswissenschaften gehört, also keine Hardcore-Wissenschaft ist? Und das mit dem Geist ist wohl auch nur cum grano salis zu verstehen.

Erinnert sich außer mir noch jemand an die Omnipräsenz von Hans-Werner Sinn in den Nachrichten? Er ist für mich eine der armseligsten Gestalten seiner Branche. Als er in einer Nachbetrachtung gefragt wurde, warum er denn bei der Finanzkrise 2008 nicht frühzeitig die Alarmglocken geläutet hätte, sie also nicht habe kommen sehen, meinte er nur, er habe sie durchaus erwartet, wollte aber durch eine alarmistische Wortmeldung nicht deren Ausbruch befördern. Was ist eigentlich Hybris?

 Es ist doch bezeichnend, wie bestimmte Aspekte der sozialen Wirklichkeit ausgeblendet werden. Bestimmte Sachverhalte lassen sich ja nicht einmal quantifizieren, so die Zahl der Obdachlosen. Auf der anderen Seite weiß man ebenso wenig über die Zahl der Millionäre. Zu beidem kann man nur so viel sagen: Es gibt sie. Der Rest verbleibt im Ungefähren.

Es ist für mich unfaßbar, dass derartige Sachverhalte so weitgehend nebulös sind. Der Unterschied liegt ja nicht nur darin, daß Obdachlose und andere sozial Schwache im öffentlichen Raum durchaus sichtbar sind. Es scheint auch gar kein großes Interesse daran zu bestehen, diese soziale Blindheit zu überwinden. Es ist ja schon ein wenig drollig, wenn sich ein Teil der Vermögenden da durchaus problembewußter zeigt als die Politik. Es geht ja nicht nur darum, daß viele Vermögen bestehen. Die heutige Generation, so sie der entsprechenden sozialen Schicht angehört, wird in den nächsten Jahre Milliardenwerte durch Erbschaft erhalten. Aber ist dies in der öffentlichen Diskussion ein Thema? Für mich ist das nicht erkennbar.

Kennen sie den Satz, es gebe kein leistungsloses Einkommen? Da hatte der Sprecher aber dicke Scheuklappen auf. Was sind denn Erbschaften, aber auch Kapitalerträge usw. anderes als leistungsloses Einkommen? Aber das gilt natürlich nur für den Plebs, nicht aber für die „Leistungsträger“.

Es mutet geradezu absurd an, wenn beispielsweise in der Frage der Altersversorgung darauf hingewiesen wird, Aktien seien da erheblich unterrepräsentiert. Da werde ich doch gleich von meiner üppigen Grundsicherung in den Aktienmarkt investieren. Ich hab’s ja. Sollen doch junge Familien, statt das Geld in die Anschaffung eines Kinderwagens zu stecken, in den Aktienmarkt investieren. Das Kind wächst doch sowieso da heraus und in absehbarer Zeit braucht es so etwas nicht mehr. Da kann man doch…

Kann man wirklich so realitätsfremd sein, dies ernstlich zu erwägen? Offensichtlich.

Es ist ja nicht so, daß dies ein Einzelthema darstellt. Verbunden sind damit die Kosten für Wohnung und Energie usw. Aber wenn etwas davon ins Gesichtsfeld der Politik tritt, wird es oft wie ein nur singuläres Problem betrachtet. Geht es z. B. um Wohnungen, dann wird nur darauf geschaut, wie viele fehlen. Gesichtspunkte wie Gentrifizierung oder der Einfluß von Wohnkonzernen auf die Preise werden dann bestenfalls als marginale Aspekte behandelt.

Es gibt einen schönen Satz von der evangelischen Theologin Dorothee Sölle: Der Mensch lebt nicht von Brot allein. Er stirbt auch am Brot allein. Aber dieses Starren auf die materielle Seite der Armut läßt die starken sozialen Bedürfnisse jedes Menschen völlig außer Acht. Das Bundesverfassungsgericht hat ja in Urteilen zur Sozialgesetzgebung darauf hingewiesen, die Grundsicherung solle auch die Teilhabe am sozio-kulturellen Leben ermöglichen. Leider ist es bei dieser allgemeinen Erkenntnis geblieben.

Theater und Museen werden ja staatlich gefördert bzw. weitgehend aus Steuergeldern finanziert. Aber wer geht ins Theater? Die alleinerziehende Mutter wahrscheinlich nicht, und auch Bezieher von Minimal-Renten sind wohl nicht so die Klientel des öffentlichen Kulturbetriebs. Im Kern wird durch diese Förderung also eine soziale Schicht gefördert, die dieser Förderung im Grunde nicht bedarf.

So selten Kultur in der Politik eine Rolle spielt, so voraussehbar ist es, daß sie als Steinbruch für die Kürzung öffentlicher Ausgaben sofort ins Gespräch kommt, wenn die öffentlichen Haushalte mal wieder „verschlankt“ werden sollen. Es ist schon beunruhigend, mit welcher Leichtigkeit diese Entscheidungsträger anderen den Gürtel enger schnallen können. Sie selbst sind ja nicht davon betroffen, wenn eine Stadtteilbibliothek wegen angeblichen Geldmangels geschlossen werden soll. Und müssen Bezieher von Grundsicherung überhaupt Bücher lesen? Schon Gerhard Schröder langten Bild, BamS und Glotze. Wer wird da höhere Ansprüche stellen?

Es fällt mir bei diesem Thema wirklich schwer, nicht gänzlich meinem Hang zum Sarkasmus zu folgen. Aber wie schon Kurt Tucholsky feststellte: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Von viel war nie die Rede. Merken Sie das auch manchmal, wenn sie sich die Nachrichten anschauen?

Da ist natürlich unfair von mir. Wahrscheinlich gibt es viel mehr guten Willen in der Politik, als unmittelbar ersichtlich. Aber schon Gottfried Benn wußte: das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Also sollte man jeden wohlmeinenden Politiker mit äußerster Vorsicht betrachten. Er könnte es ernst meinen.

Jetzt zu einem anderen Thema, das mich bewegt. Die Sicherung unserer Lebensgrundlagen durch den Schutz der Umwelt. Fridays for Future ist ja nach der Corona-bedingten Pause wieder im Gespräch. Nun bin ich nicht mehr in dem jugendlichen Alter wie viele von deren Aktivisten, aber das bedeutet ja nicht, das Thema sei mir gleichgültig. Ich bin im Gegenteil sehr von der Ernsthaftigkeit und Informiertheit der jungen Menschen beeindruckt. Wenn ich da an mich in dem Alter zurückdenke – eine derartig ernsthafte Auseinandersetzung mit so komplexen Themen war da nicht mein Ding. Klar, ich war politisch interessiert, aber zu einem substantiellen Einsatz für bestimmte Themen hat es nicht gereicht.

Selbstkritisch muß ich zugeben, mir nicht vorstellen zu können, wie es sich anfühlt, die Bedrohung der Umwelt, insbesondere der Erderwärmung, mit einem konkreten Zeitlimit zu erleben. Ich kenne zwar die zeitliche Dimension der Bedrohung, aber sie bleibt für mich weitgehend abstrakt. Wie muß es sein, sich durch die Versäumnisse der heutigen Entscheider seiner Zukunft ganz konkret beraubt zu fühlen? Ich weiß es nicht, und manchmal bin ich direkt froh darüber.

Es läßt mich ebenfalls an der Vernunft der Menschen zweifeln, wenn ich betrachte, wie viele Forschungsergebnisse vorliegen und wie folgenlos sie in der Politik bleiben. So sehr auch immer wieder betont wird, diese Probleme seien bekannt, so gibt es doch auch viele Vorbehalte, dieser Kenntnis auch Taten folgen zu lassen. Die Einwände sind bekannt: Nicht zu bezahlen, nicht umzusetzen. Aber welche Konsequenzen laden wir – also meine Generation – der nachfolgenden auf? Ist das nicht einfach unverantwortlich, durch Untätigkeit die Zukunft der jungen Menschen zu verspielen? Nach mir die Sintflut, so scheint das Motto der Entscheider.

Und sie könnten angesichts der Auswirkungen der Erderwärmung recht haben.