Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Betrachtungen

Sollte jemand bei diesem Beitrag einen roten Faden finden: Bitte bei mir abgeben, ich finde ihn gerade nicht und gehe jetzt wieder zum Bahnhof, um die Menschen zu betrachten. Da muss ich nicht so viel denken…

Auf meinem heutigen Weg zur Medienwerkstatt machte ich, wie häufig, einen kleinen Zwischenstopp am Bahnhof. Es ist immer interessant, dort den Blick schweifen zu lassen, denn da dies ein Knotenpunkt im Verkehr ist, sind auch immer viele Menschen dort zu sehen. Was mir heute besonders ins Auge fiel, war eine junge Frau, deren Hose sehr – sagen wir – körperbetont war. Sie saß so knapp, dass über die Passform des darunterliegenden Dessous wirklich keine Frage bei mir aufkam. War diese junge Frau also, obwohl bekleidet, auch bedeckt?

In Zeiten von Corona ist eine andere Form der Verhüllung fast selbstverständlich geworden, nämlich die Gesichtsmaske. Was macht das mit der Wahrnehmung meines Gegenübers, insbesondere wenn es sich um einen mir fremden Menschen handelt? Ein Großteil der Mimik bleibt ja unter der Maske verborgen; es fehlen mir also wichtige Informationen, mein Gegenüber vorläufig einzuschätzen.

Mir fällt dann gleich die ausufernde Diskussion um die sogenannte Vermummung ein. Während also diese Form der Verhüllung der Gesichtszüge stets unter dem Aspekt der Wiedererkennbarkeit stand und schon die Verdeckung der Gesichtszüge kriminalisiert wurde, ist die Gesichtsmaske geradezu ein Muss in der Öffentlichkeit, unabhängig von den sehr unterschiedlichen regionalen Bestimmungen. Da passt die Redewendung, wenn zwei das Gleiche tun, sei es noch nicht dasselbe.

Ich möchte in dem Zusammenhang daran erinnern, mit welcher Verve diskutiert wurde, ob eine Muslima sich in der Öffentlichkeit mit Niqab und Hijab den Blicken förmlich entziehen darf. Beim Einkauf sah ich einmal eine Frau, die dazu auch noch schwarze Handschuhe und eine dunkle Brille trug, so dass ihre Bekleidung wirklich Blick-dicht war. Ich empfand diese Form der Verhüllung als fast aggressiv und auf jeden Fall eine Verweigerung von Zivilität.

Da gerate ich aber schon in einen Widerspruch mit meiner Auffassung, jeder solle nach den eigenen Vorstellungen leben. (Oder doch besser nach meinen?) Ich erinnere mich in dem Zusammenhang an das Bild einer Gruppe von Frauen, die vor einem Café saßen und erkennbar Spaß miteinander hatten. Ihre Kleidung rangierte von einer Frau mit Niqab und Hijab bis zu einer jungen Frau, die das Haar ganz offen trug. Wenn diese so unterschiedlich gekleideten Frauen keinerlei Probleme an der gegenseitigen Gesellschaft hatten, was habe ich also im Einzelnen daran auszusetzen? Mangelt es mir dabei an Toleranz? Ich bin da mit mir immer noch nicht einer Meinung.

Aber es gibt ja auch das genaue Gegenteil von Verhüllung, und das vor allem in der Werbung. Da wird der menschliche Körper, vor allem der weibliche, häufig möglichst textilfrei präsentiert, auch wenn das weder sachlich noch ästhetisch geboten scheint. Ist es nicht ein wesentlich größeres Skandalon, den weiblichen Körper in dieser Form zu zeigen, eben zur Schau zu stellen, als ihn zu verhüllen? (Christo lässt grüßen!)

Aber über den geschilderten Bereich hinaus gibt es auch noch andere Formen der Bloß-Stellung. Jeder hat es bestimmt schon erlebt, wie einem eine Situation entgleitet und man sich wie der sprichwörtliche begossene Pudel fühlt. Niemand wird es wirklich angenehm finden, mit dem eigenen Verhalten bei den Betrachtern für Belustigung zu sorgen. Besonders ärgerlich finde ich es, wenn dabei Kinder der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Was ist den komisch an einer Situation, in der ein Kind sich durch Unbeholfenheit wehtut, sich also Schmerzen zufügt? Es mag auf den ersten Blick lustig sein, wenn ein Kind mit dem Dreirad umkippt, aber auch nur ein flüchtiger Blick in das Gesicht des Kindes sollte einem das Lachen im Halse steckenbleiben lassen. Schadenfreude sei die reinste Freude, heißt es. Aber ich kann an ihr nichts Reines entdecken; sie ist boshaft.

Haben wir aber nicht insgeheim alle unsere Freude daran? Ich denke da an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, in denen der Kaiser im Wortsinn ziemlich nackt dastand. Diese Form der Bloßstellung hat ja auch eine den Betrachter entlastende Wirkung. Vorzugeben, ich sähe die Prächtigkeit der Stoffe, obwohl ich tatsächlich gar nichts sehe und nichts zu sehen ist, stellt mich ja in Widerspruch zu meiner eigenen Wahrnehmung. Da kann ich die Lächerlichkeit meiner Haltung dann bequem an den Düpierten weiterreichen.

Im Augenblick laufen ja gerade die Gerichtsverhandlungen über die sogenannten Cum-ex-Geschäfte, und wenn man sich ein wenig mit der Materie befasst, sorgt man sich doch um die geistige Gesundheit der Akteure. Es bleibt mir unverständlich, wie man es für rechtlich (von moralisch gar nicht erst zu reden) einwandfrei halten kann, sich Steuern, die man 1 Mal (oder gar nicht) gezahlt hat, mehrfach zurückerstatten zu lassen. Das Befremdliche daran ist, dass sich die Akteure in dem Fall wenig schuldbewusst zeigen. Und es geht um Schäden in beträchtlicher Höhe.

Ein anderer Prozess wirft dieselben Fragen auf. Auch im Skandal um die manipulierten Abgaswerte von Autos bei VW und anderen Herstellern kann von Beschämung, so gelogen zu haben, keine Rede sein. Es gab sogar eine Notiz, doch um Himmels Willen nichts davon nach draußen, also an die Öffentlichkeit, gelangen zu lassen. Es wurde also wissentlich getäuscht. Nun bin ich sehr gespannt auf das Urteil.

Sicher kann man zu bestimmten Sachverhalten unterschiedliche Meinung sein, aber niemand lässt sich doch gerne hinters Licht führen. Es ist einerseits die Dreistigkeit, mit der hier manipuliert wurde, andererseits aber auch die Erschütterung der Glaubwürdigkeit der Handelnden, die hier den Schaden anrichtet.

Geschäfte basieren doch auch auf Vertrauen. Ich gehe als Käufer davon aus, dass die Ware die versprochenen Eigenschaften hat, und der Verkäufer möchte nicht mit Falschgeld oder einem faulen Scheck bezahlt werden. Ich denke, ein solches Verhalten angeblich honoriger Manager fügt der marktwirtschaftlichen Ordnung einen Schaden zu, der gar nicht in Heller und Pfennig auszudrücken ist, weil er die Grundlagen dieses Systems untergräbt. So radikal kann kein systemkritischer Politiker sein, dass er ähnliche Wirkung zu entfalten vermöchte, weil sie nämlich aus dem System selbst kommt.

Ich erwarte ja nicht, jeder Mensch würde mir immer völlig aufrichtig begegnen. Ein Blick in den Spiegel hilft. Aber dennoch gibt es eine, wenn auch nicht fest gezogene Linie, die nicht überschritten werden sollte. Unsere Alltagssprache kennt ja eine Reihe von Redewendungen, die die Striktheit im Umgang mit der Wahrheit relativiert. Mal 5e gerade sein lassen. Leben und leben lassen. Aber direkt belogen werden will keiner. Beim Spiel zu schummeln gilt zumindest als unfein, weil es die Spielregeln (auch die des Umgangs miteinander) verletzt.

Ich bleibe noch ein wenig bei der Wirtschaft. Da gab es vor Jahren einen Begriff, der heute wahrscheinlich eher befremdlich wirkt: den der „Leistungsträger“. Gemeint war damit natürlich nicht die Feuerwehr, die Müllabfuhr, die Pflegekraft im Gesundheits- und Sozialwesen, sondern Manager. Geleistet wurde anscheinend nur da, nicht in den Werkshallen. Diese implizite Abwertung bestimmter Berufsfelder fand ich schon damals verlogen. Jetzt in Zeichen von Corona und anderen Fährnissen hat man mit einem Mal den Wert der Kassiererin beim Discounter oder den der Pflegekraft auf der Intensivstation erkannt. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich diese Verirrung wieder legen wird…

Sollte jemand bei diesem Beitrag einen roten Faden finden: Bitte bei mir abgeben, ich finde ihn gerade nicht und gehe jetzt wieder zum Bahnhof, um die Menschen zu betrachten. Da muss ich nicht so viel denken…