Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Demokratie

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“

Ich gebe zu, die bundesweiten Demonstrationen gegen das Erstarken des Rechts­radikalismus haben mich überrascht. Nachdem geradezu jahrzehntelang das Thema eben keines war – der „Feind“ (welcher?) immer links stand – war das so auch nicht zu erwarten.

Welche Ursache diese Massenbewegung hat, wird sich wohl erst mit einigem Abstand bewer­ten lassen; der Auslöser (die Konferenz unter Teilnahme einiger AfD-Mitglieder mit dem Rechtsradikalen Sellner in Potsdam – Achtung! Ein Österreicher!) allein kann es meiner Ansicht nach nicht sein. Ich bin mir auch alles andere als sicher, ob sich dies in den Wahlergebnissen bei den Land­tagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Herbst niederschlägt. Aber in dem Punkt lasse ich mich gerne widerlegen!

Viel verwunderlicher finde ich es, wenn die Unzufriedenheit mit „den Regieren­den“ oder „denen da oben“ sich dadurch artikuliert, daß offen rechte Positionen unterstützt werden. Es geht dann ja oft in die Richtung „Einwanderer und Aus­länder“, die an allem schuld sein sollen. Ich war schon immer der Meinung, die ganz einfachen Antworten auf komplexe Sachverhalte können unmöglich richtig sein.

Auch wenn die allgemeine Lage schwierig ist – der Krieg in der Ukraine, die steigenden Kosten für Leben und Wohnen usw. – dann sei an Kants Aufforderung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ erinnert, die immerhin locker 240 Jahre alt ist und ihre Wurzeln gar in der Antike hat. Demnach laufen eine ganze Menge Feiglinge durch die Gegend…

Komplexität ist anstrengend. Da braucht Jede/Jeder nur auf ihr/sein eigenes Leben und Verhalten zu schauen. Klar wollen wir Fleisch aus tiergerechter Haltung – aber teuer darf es auch nicht sein. Und schon beim Wort „tiergerecht“ kann man ja ins Grübeln kommen. Ob es ihnen wirklich gerecht wird, letztendlich zum Zwecke des Verzehrs gehalten zu werden, könn­ten uns nur die Tiere beantworten…

Natürlich möchten wir eine gesunde Umwelt mit sauberer Luft, aber wie soll man die Kinder zur Schule hinbringen und wieder abholen, wie die Einkäufe nach Hause bringen, vor allem außerhalb der Städte?

Das Leben stellt manchmal ganz schön fiese Fragen.

Mir wollte es noch nie einleuchten, warum man seiner Ablehnung der Politik dadurch Ausdruck verleiht, daß man rechten Parolen – ja, was eigentlich? Auf den Leim geht? Sie nachplappert? Das eigene Denken einstellt? Positiv wirkt das auf mich nicht. Was bei einem solchen Verhalten völlig in den Hintergrund tritt: Was die AfD sonst noch programmatisch im Köcher hat: Einen Austritt aus der EU, die Reaktivierung der Atomkraft, Beibehaltung der fossilen Energieträger usw. Das Ergebnis einer DIW-Studie zu den Folgen einer solchen Politik besagt, daß die Folgen vor allem die Wähler der AfD selbst träfen. „Da ist meine Mama selbst schuld, wenn ich mir wehtue.“ So etwas kann man einem Kleinkind durchgehen lassen, aber einem nach eigener Auffassung „mündigen Bürger“ muß man da einfach mal auf die Finger klopfen. (Beim Kopf wäre der Erfolg wohl eher fraglich.)

„Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber.“ Dabei sind Kälber wenigstens niedlich. Die Vorzeigefrau der AfD, Alice Weidel, ist ja ein Beispiel für das Familienbild der AfD: lesbisch, seit 20 Jahren in einer eingetragenen Partnerschaft mit einer Frau lebend. Oder sieht die Programmatik – hier das Familienbild  –  der AfD nicht doch anders aus? Daß Frau Weidel dazu steht, ist auch der einzige sympathische Zug, den ich an ihr finden kann. Aber konsequent ist das eben auch nicht.

Auch mir gefällt das Handeln dieser Regierung und ihr Auftreten nicht. Wenn Herr Lindner auf ein Mikrofon trifft, geht mein Blutdruck schon vorab in die Höhe. Die kommuni­kative Katastrophe Olaf Scholz muß man wirklich nicht mehr kommentieren. Wer meint, es besser zu wissen, sollte mich als Wahlbürger doch wenigstens darüber informieren, was er warum tut oder eben nicht. Da verwechselt er Bräsigkeit mit Bedächtigkeit. Als Wähler ernst genommen fühle ich mich auf keinen Fall.

Ja, die Zeiten sind schwierig und die Gestaltungsräume sind durch das Urteil des BverfG zu den Schulden nicht größer geworden. Aber war das wirklich unvorhersehbar? Wer mit solchen Milliardenbeträgen jongliert, als ging es nur um die Portokasse, schafft bei mir kein Vertrauen in seine Kompetenz. Olaf Scholz war schließlich mehre Jahre selbst Bundesfinanzminister. Da scheint nicht viel Kompetenz von dem Finanzminister an den Bundeskanzler durchgereicht wor­den zu sein…

Da ich ein positiv denkender Mensch bin, suche ich mal das Positive. Zwar nicht direkt, aber doch deutlich ist die Kritik an der politischen Teilhabe der Bevölkerung. Aber das sehe ich dann doch nicht im Sinn der AfD, sondern grundsätzlich, also radikal. Das kommt ja vom lateinischen radix, was schlicht Wurzel bedeutet. Denn in dieser Teilhabe bin ich als Bürger doch sehr eingeschränkt: Alle vier (in vielen Bundesländern fünf) Jahre darf ich meine Stimme bei der Wahl abgeben und das war’s dann in der Hauptsache.

Schauen wir uns doch dazu die Bibel der Demokratie, das Grundgesetz, an. Was sagt es dazu? „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“, heißt es in Artikel 20 GG. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ heißt es im folgenden Artikel des GG. In Artikel 38 wird für die Abgeordneten festgestellt: „Die Abgeordneten … sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ An dem Punkt fällt mir sofort ein anderer Begriff ein: „Fraktionszwang“. Der ist im GG nicht vorgese­hen, aber Alltag. Ganz so genau nehmen es die Parteien also nicht mit dem hohen rechtlichen Status des einzelnen Abgeordneten – und das ist eine überschaubare Menge.

Wie sieht es da mit dem Wähler, von dem ja alle Staatsgewalt ausgehen soll, aus? Meiner Meinung nach deutlich schlechter. Zwar ist auch das Demonstrationsrecht, also die Versammlungsfreiheit, im GG garantiert, es gilt streng genommen aber nur in geschlossenen Räumen. Mir fällt zu Demonstrationen vor allem ein Satz aus Politiker-Mund ein: Man werde dem „Druck der Straße“ nicht nachgeben. Wir dürfen also wählen, aber wenn sich Teile der Bevölkerung mit Demonstrationen gegen etwas wenden, dann hat das doch einen gewissen „demokratischen Haut Goût“. Sehr demokratisch!

In Einzelfällen ist der „Druck der Straße“ aber nicht so anrüchig: wenn z. B. Bauern mit ihren Traktoren Straßen blockieren. Erinnern Sie sich noch an die Worte zur „Letzten Generation“, wenn die sich auf Straßen festklebten? Sogar ein „Öko-Terrorismus“ sollte es in Augen mancher Politiker sein. Da kann sich Al Qaida doch mal eine Scheibe von abschneiden!

Es ist für mich immer wieder ein Ärgernis, wenn Politiker Entscheidungen treffen, die mit den Fakten  – zugegeben: meiner Meinung nach – nicht zusammenpassen. Die angebliche Umweltfreundlichkeit der Atomkraft ist so ein Beispiel oder die oft vertretene Meinung, wenn es der Wirtschaft gut gehe, dann falle auch etwas für den Rest ab. Eine solche „Brosamen-Ökonomie“ ist mir nicht nur suspekt, sondern direkt zuwider. Meine realistischere Gegenposition: Jeder ist seines Glückes Schmied – aber Hammer und Amboß gehören anderen.

Was von den Politikern oft nicht gesehen wird oder nicht gesehen werden will, sind die demokratiegefährdenden Auswirkungen der ungleichen Vermögensverteilung. Ich habe neulich Marlene Engelhorn im Fernsehen erlebt, die 90% ihres Millionenerbes verschenken will, weil sie es für undemokratisch hält, nur durch die Geburt privilegiert zu sein. Das ist in meinen Augen deutlich demokratischer als das „Leistung muß sich wieder lohnen“-Mantra z. B. eines Friedrich Merz (selbst Millionär). Frau Engelhorns Einschätzung: Es gebe eine strukturelle Schieflage. „Ich verstehe nicht, warum reichen Menschen das Gesicht herunterfällt, wenn sie Steuern zahlen. Ich halte das für das Demokratischste überhaupt und für etwas, das man mit Stolz erledigen kann. Dadurch wird alles finanziert, was die Strukturen unseres öffentlichen Lebens gewährleistet“.

Die ungleiche Verteilung der Vermögen wird quasi als gottgegeben akzeptiert und ich kann mich noch an den oft zitierten Slogan erinnern, Kapital sei ein scheues Reh. Wenn also Kapitaleigner in Gefahr geraten, wie jeder Arbeitnehmer besteuert zu werden, droht der Untergang des Abendlandes. Nach Angaben des DIW besitzten 10 % der Bevölkerug zwei Drittel der Vermögenssumme, das reichste Prozent verfügt über immerhin 35 %. Das war in der Tendenz schon lange bekannt, problematisiert wurde es nicht.

Zu den „gesellschaftlichen Long-Covid-Folgen“ – wie ich es mal formulieren möchte – gehört die Tatsache, daß sich im Verlauf der Pandemie die Ungleichverteilung noch verstärkt hat. Die Reichen sind reicher geworden, die Armen ärmer. Seit Jahren halten die Lohnerhöhungen nicht mit der Inflation Schritt. Herr Lindner findet gar, die Bezieher vom Bürgergeld seien mit den überdurchschnittlichen Erhöhungen der letzten Jahre auf das Beste bedient. Diese Erhöhung gleicht aber immer noch nicht die Erhöhung der Lebenshaltungskosten und Mieten aus. Er muß ja auch nicht davon leben.

Ich habe Artikel 20 GG schon erwähnt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.“ Vor allem den zweiten Teil, „in Wahlen und Abstimmungen“, finde ich interessant. Wäre das nicht ein gangbarer Weg, die Bevölkerung näher an die politischen Entscheidungen heranzubringen? Allerdings sehe ich auch die Problematik einer solchen Mitwirkungsmöglichkeit: Mehrheiten sind nicht zwangläufig näher an der Vernunft angesiedelt als es die Entscheidungen von Politikern sind.

Abschließend möchte ich sagen, daß sich die Demokratie immer im Fluß, in der Veränderung befindet. Um sie zu bewahren, braucht es vor allem eines: Demokraten. Die Demonstrationen gegen die AfD sind da doch ein hoffnungsvolles Zeichen.