Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Erinnerungen

Manches versuchen wir auch, aus der Erinnerung zu drücken, tief in uns zu vergraben. War das Erlebte gar derart schrecklich, daß wir es selbst in der Erinnerung nicht ertragen, wird dieses Erlebnis verdrängt. Das Dumme dabei ist: Es wird dadurch nicht wirkungslos.

Was wäre ich ohne Erinnerungen? Bestehe ich nicht wesentlich aus Erinnerungen? Ich denke dabei an den Zerfall der Persönlichkeit von Menschen, die an Alzheimer leiden. Wobei dies ja oft nur ein partieller Verlust der Erinnerung ist: Die Zeit vor 40 Jahren ist präsent, die letzte Woche oder gestern sind es nicht mehr, hinterlassen keine Erinnerungen. Jedenfalls keine dauerhaften.

Der mögliche Verlust der Erinnerung macht mir persönlich große Angst. Was für eine Person würde ich, wenn ein solcher Verlust einträte? Ich kann es mir zum Glück nicht einmal vorstel­len.

Ich möchte hier ausdrücklich zwischen Gedächtnis und Erinnerung unterscheiden. Ich habe viele Dinge im Gedächtnis (Wurzel aus 2 = 1,41421), aber das würde ich nicht als eine Erinnerung bezeichnen. Erinnerungen erstrecken sich über Zeiträume, erschöpfen sich nicht in einzelnen Fakten, beziehen sich auf andere Menschen usw. Jede Erinnerung ist also ein kleines Biotop in meinem Gedächtnis.

Heute morgen hatte ich ein Erlebnis, das gleich eine Kette von Erinnerungen auslöste. Ich kam an einer Bäckerei vorbei und nahm den Geruch von frischem Zwiebelbrot wahr. Die Butter darauf und das Krachen der knusprigen Kruste waren – leider nur als Erinnerung – sofort präsent. Dieser Geruch war also mit einer Vielzahl von Erinnerungen verknüpft.

Das Stichwort Erinnerung weckt auch die an das Musical „Cats“, das ja auf Gedichten von T. S. Eliot basiert. Ausgerechnet auf den bekanntesten Song daraus, „Memories“, trifft das aber nicht zu. Damit verbunden sind aber noch viele andere Erinnerungen: Mit wem ich das Lied das erste Mal hörte usw. Wenn ich diesem lockeren Verbund der Erinnerungen folgte, wäre ich bestimmt bald bei Erinnerungen, die mit diesem Musical aber auch gar nichts zu tun haben.

Ich vergleiche mein Gedächtnis gern mit einem Kaleidoskop: Die Bestandteile bleiben wesent­lich dieselben, auch wenn ich natürlich Neues erlebe. Aber wenn ich das Kaleidoskop drehe, ergeben sich unterschiedliche Muster. So ist es auch mit meinen Erinnerungen. Dieselben Erinnerungen können je nach Ausgangspunkt ein durchaus unterschiedliches Muster ergeben, auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden sein.

Nicht alles an meiner Erinnerung weckt Wohlbefinden. Manchmal ist mein Erinnerungsver­mögen geradezu tückisch. Etwas liegt mir auf der Zunge und rückt nicht einen Millimeter vor. Oder ich versuche verzweifelt, einem bekannten Gesicht einen Namen zuzuordnen. Anderer­seits kann es auch sein, daß ich morgens im Radio ein Lied höre und es den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf bekomme.

Erinnerungen können sich auch an Gegenständen wie den beliebten Urlaubs-Souvenirs fest­machen. Ein Blick auf eine gesammelte Muschel und die Wärme des Sommerstrands durch­strömt mich. Aber vielleicht war das ja auch der einzige sonnige Tag und der Frust über einen verreg­neten Urlaub kommt wieder hoch.

Erinnerungen können auch täuschen. Mir ist es gelegentlich passiert, daß ich eine Passage aus einem Buch oder einige Zeilen aus einem Gedicht ganz sicher zitieren konnte, nur um dann beim erneuten Lesen feststellen zu müssen, daß da Einiges nicht mit meiner Erinne­rung über­ein­stimmte, ich mich also an etwas Falsches erinnerte. Aber ich wäre jede Wette eingegan­gen, den Wortlaut korrekt wiederzugeben.

Manches versuchen wir auch, aus der Erinnerung zu drücken, tief in uns zu vergraben. War das Erlebte gar derart schrecklich, daß wir es selbst in der Erinnerung nicht ertragen, wird dieses Erlebnis verdrängt. Das Dumme dabei ist: Es wird dadurch nicht wirkungslos. Wir scheuen dann vor bestimmten Situationen zurück, ohne wirklich einen Grund dafür zu erkennen.

Wesentlich alltäglicher, aber nicht angenehmer ist es, wenn wir nach üppigem Alkoholkonsum am nächsten Tag auf der verzweifelten Suche nach dem Ablauf des Abends sind und sich nicht mehr als ein paar Erinnerungs-Brocken finden lassen.

Neben diesen sehr persönlichen Erinnerungen gibt es aber auch Erlebnisse, die allgemein sind, daher auch von allen geteilt werden. Der Haken bei der Sache: Die Erinnerungen stimmen selten vollständig miteinander überein. Abhängig davon, mit welchem Fokus ich ein Erlebnis be­trachte, können sie selbst bei mir schon eine unterschiedliche Tönung haben.

Bekannt ist das Dilemma aus Krimis. Selbst wenn es mehrere Zeugen für ein Ereignis gibt, sind die Aussagen doch selten deckungsgleich. Wir haben eben im Laufe der Zeit eine Menge Wahrneh­mungsfilter entwickelt, die uns das gleiche Geschehen anders wahrnehmen lassen als andere Menschen. Ich habe mal mit einem Polizisten gesprochen, und der meinte zu meinem Erstaunen, Kinder seien sehr gute Zeugen, was den Ablauf eines Geschehens angehe. Nur bei Punkten wie Größen- und Geschwindigkeitsangaben seien sie nicht zuverlässig.

Ich brauche mich nur flüchtig umzusehen, um irgendeinen Menschen mit einem Smartphone zu sehen, der irgendwelche Fotos oder Selfies macht. Bei der Menge würde ich schon nach einem Tag den Überblick verlieren, und ich denke nicht, daß ich damit alleinstehe. Wofür dann diese Vielzahl von Fotos? Wenn ich mich nicht einmal an ein bestimmtes Foto erinnern kann, dann ist dessen Aufbewahrung doch etwas sinnlos. Aber der Glaube, einen bestimmten Moment festzuhalten, war ja zu früheren Zeiten in Fotoalben manifestiert. Wie oft aber wurden die wirklich noch einmal angeschaut? Höchstens, um den lästigen Besuch zu vergrau­len. Dia-Abende sollen genauso wirkungsvoll gewesen sein…

Ein irritierendes Element von Erinnerungen ist einerseits ihre Flüchtigkeit. Ich könnte jeden­falls auf Anhieb nicht sagen, was ich vor einer Woche getan habe. Auf der anderen Seite stehen aber die Ausnahmen, wo die Erinnerung beständig und damit zu einer Erfahrung wird. Ohne sie wären wir orien­tierungslos, denn woher sollten unsere Maßstäbe und Ansichten kommen, wenn nicht aus der Erinnerung und der damit verknüpften Erfahrung?