Was macht Rituale so reizvoll? Es liegt wohl an der Wiederholung eines bestimmten Ablaufs, der nicht viel Nachdenken erfordert und damit gewissermaßen einen Fix- und Ruhepunkt kennzeichnet.
Der Rote Faden
Von Rolf Mackowiak
Rituale
Bei dem Wort denkt wahrscheinlich jeder zuerst an die Religion. Aber wenn man diesen engen Rahmen verläßt, stößt man auf viele Verhaltensweisen, die ähnliche Merkmale aufweisen. Jeder hat wohl eine ganze Reihe von Gewohnheiten, die er nicht zuerst mit diesem Begriff in Verbindung bringt. Dabei sind ja Einschlaf-Rituale nicht ganz unbekannte Vertreter.
Was macht Rituale so reizvoll? Es liegt wohl an der Wiederholung eines bestimmten Ablaufs, der nicht viel Nachdenken erfordert und damit gewissermaßen einen Fix- und Ruhepunkt kennzeichnet. Es gibt ein Gefühl der Sicherheit, des Vertrauten. Der Tag mag noch so hektisch gewesen sein, in dem Moment, wo ich damit beginne, verblaßt die Unübersichtlichkeit, die der Tag vielleicht mit sich gebracht hat und macht Gewohntem Platz.
Rituale haben sowohl eine Innen- als auch eine Außenwirkung: Nach innen gewandt gehört man dazu und grenzt sich damit von dem Rest ab. Ein bestimmter Dress-Code zeigt an, ob man en vogue ist oder schon ewig gestrig.
Rituale geben Halt. Wenn eine Situation einfach zu haarsträubend wirkt, mache ich eine Pause und trinke einen Kaffee oder nehme eine Prise Schnupftabak. Oder ich drehe eine Runde um den Block. Danach kann die Welt wieder überschaubarer sein und ich bin ihren Anforderungen besser gewachsen.
Eine weniger schöne Seite von Ritualen: Sie können sich verfestigen und sind dann nur noch in Grenzen veränderbar. Ein Beispiel aus der letzten Zeit sind die Anti-Corona-Demos. Ich gebe ja zu, daß die ganze Sache auch mir nach locker zwei Jahren gehörig auf die Nerven geht. Aber deswegen muß ich doch meinen Verstand nicht in Rente schicken und Blödsinn nachplappern. Das wirkt auf mich so unwirklich wie die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe.
Auch ich bin ja empfänglich dafür, wenn andere meine Ansichten teilen. Umgekehrt bin ich erst einmal skeptisch, wenn jemand mit dem Anspruch auftritt, er wisse genau Bescheid und alle anderer Meinung müßten sich dem doch anschließen können. Als kleines Korrektiv erinnere ich mich dann an eine Geschichte vom Herrn Keuner (Bert Brecht), der einmal auf die Frage, was er denn gerade so mache, die Antwort „Ich plage mich sehr. Ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.“ parat hatte.
Auch diese Erinnerung ein Ritual.
Ich meine damit, daß ich Rituale auch für mich fruchtbar einsetzen kann: als Leitpfähle im Alltag. Ich darf nur nicht darin erstarren, nach einem Schema handeln.
Mich nervt es beispielsweise, wenn nach einem Terroranschlag z. B. auf einem belebten Markt mal wieder gebetsmühlenartig von „unschuldigen Opfern“ die Rede ist. Was hat Schuld damit zu tun, wenn ich mich zur falschen Zeit am falschen Ort befinde? Es soll nur die Ruchlosigkeit der Täter betonen, hat mit den Opfern aber wenig zu tun.
Ebenso unbefriedigend finde ich, wenn in den Nachrichten gesagt wird, nach Auskunft der „Funke Mediengruppe“ sei eine Sache so oder so. Was vermittelt mir diese Meldung? Sie soll als seriös gelten. Aber weiß ich damit, wer sich hinter der Mediengruppe verbirgt? Wie fundiert ist diese Meldung? Sie dient der Verstärkung der Glaubwürdigkeit der Meldung, indem eine Quelle genannt wird, ohne daß diese einer Überprüfung zugänglich ist.
Ähnlich verhält es sich bei der nunmehr ja täglichen Aktualisierung der Zahl der Corona-Erkrankten. Wir bekommen die Zahl der Inzidenz, und wenn es dann paßt, wird auch noch erklärt, was die Bezugsgröße ist, nämlich die Zahl der Erkrankungen auf 100.000 Einwohner. Aber sagt mir das wirklich etwas? Ist die Zahl hoch, verglichen mit anderen Erkrankungen?
Ich empfinde es oft als sehr störend, wenn ich mit Fakten zugeschüttet werde, aber im Einzelnen gar nicht bewerten kann, welche Bedeutung sie haben.
„Fakten, Fakten, Fakten“ versprach Helmut Markwort bei Einführung des „Focus“. Als Gegenpol erinnere ich mich an eine Werbung der Zeitschrift „Pardon“. Es war ein Cartoon, in dem eine Frau mit bildhübschem Gesicht in einen Handspiegel schaute. Unter dem Kopf begann aber ein Körper, der mehr an eine Chimäre erinnert: fett und mit Teufelsschwanz und noch einigen wenig reizvollen Attributen versehen. Der Text dazu, in Anspielung auf das Hamburger Nachrichtenmagazin: „Der SPIEGEL zeigt nicht alles.“
Ähnlich fühle ich mich oft bei den Nachrichten. So faktenreich und sachlich richtig das alles sein mag, was mir präsentiert wird: Ist es auch umfassend? Wenn ich da nicht auf eigenes Hintergrundwissen zurückgreifen kann, stehe ich etwas dumm da. Und wie fundiert ist mein Hintergrundwissen? Auch da können sich Abgründe auftun.
Das dürfte auch der Angelpunkt bei vielen sein, die pauschal von einer „Lügenpresse“ o. ä. reden. Sie fühlen sich mit ihren Anliegen (ich nenne das mal großzügig so) nicht angemessen in der Presse dargestellt. Nur leider stellen sie damit nicht auch ihre eigene Haltung auf den Prüfstand. Ich erinnere an die „alternativen Fakten“ eines Donald Trump, der zur Wahrheit ja ein eher funktionales Verhältnis hat.
Diese ritualisierte Abwehr anderer Meinungen erspart natürlich das Nachdenken, und Denkfaulheit war mir schon immer zuwider. Ich habe eine geraume Zeit auf der Straße gelebt und auch sonst kann ich auf eine Menge unerfreulicher Erlebnisse verweisen. Aber es wäre für mich eine intellektuelle und moralische Bankrotterklärung, würde ich mich solcher Deutungsmuster bedienen.
Ich will die Sache aber auch nicht zu hoch hängen. Dazu ist unser Alltag zu sehr von Ritualen durchzogen. Ich denke dabei an Floskeln zur Begrüßung. „Wie geht’s?“ „Schön, dich mal wieder zu sehen.“ etc. Niemand erwartet bei der Frage eine Auskunft über meine Gesundheit oder mein sonstiges Befinden. Ich anerkenne die Anwesenheit des anderen und signalisiere Gesprächsbereitschaft. Wie echt die auch immer sein mag.
Solcher sozialer Kitt erleichtert den Umgang miteinander. Ich habe jetzt nicht die genaue Zahl im Kopf, aber jeder bedient sich im Laufe des Tages häufig mindestens der Flunkerei, oft auch der glatten Lüge. Es würde den mitmenschlichen Umgang auch ziemlich erschweren, wäre es anders. Selbst wenn ich mich hundsmiserabel fühle, bin ich nicht sehr erfreut, wenn mir das jemand einfach so bestätigt. Falls er nicht gerade zu meinem engeren Umfeld gehört. In dem Fall gestatte ich ein wenig mehr Ehrlichkeit. Aber auch das sollte dosiert sein.
Rituale wirken also wie ein Filter, durch den die Realität zu mir durchdringt. Sie sind ein Ausdruck meiner Voreingenommenheiten, wenn nicht Vorurteilen. Ich halte mich zwar für einen durchaus rationalen Menschen, aber ich würde nie behaupten, davon frei zu sein. Wichtig ist dann, daß ich mir mein Verhalten davon nicht diktieren lasse.
Erich Kästner hat das einmal in Bezug auf Verallgemeinerungen so formuliert: Immer wichtig / niemals richtig.
Tun wir also das Richtige.