Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Existenz-Minima

Auch Wärme oder allgemein der Schutz vor Wetter und anderen Unbilden gehört also zum Existenzminimum. Das scheint trivial, aber die Zahl der Obdachlosen hat zugenommen und Obdachlosigkeit ist in Zeiten von Corona und den damit verbundenen Einschränkungen ein gutes Stück unkomfortabler geworden. Und ich weiß, wovon ich rede.

Wenn ich mal ganz unbedarft an das Thema herangehe, dann ist schon der Titel dieses Beitrags seltsam: Wieso die Pluralform? Mehr als eine Untergrenze kann es doch bei der Sicherung der physischen und sozialen Existenz eigentlich nicht geben.

Um diesen Irrtum zu beheben, gibt es Juristen. Ich habe mal kurz im Internet recherchiert und fand auf Anhieb gleich mehrere Minima:

  1. Das sächliche Existenzminimum beträgt 812 €/Monat.
  2. Der steuerliche Grundfreibetrag beträgt 9.408 € (also etwa 784 €/Monat).
  3. Bei Pfändungen liegt die Grenze bei 1.180 €.
  4. Die Anrechnungsgrenze bei der Privatinsolvenz liegt bei 1.260 €.

Ein wirkliches Existenzminimum stellt natürlich nur der erste Punkt dar; 2 – 4 sind Anrechnungsgrenzen, die aber immerhin eine Untergrenze setzen, bis zu der ein Einkommen vor dem Zugriff Dritter gesichert ist. Diese Werte beziehen sich auf Alleinstehende.

Schon bei der Einführung von Hartz IV wurde reichlich getrickst. Da gab es sogenannte „virtuelle Abzüge“, die sich auf die Höhe des Betrages aber höchst real auswirkten, und wie der Teufel es wollte, lag der punktgenau auf Höhe der alten Sozialhilfe. Bei der gab es aber noch Leistungen für zusätzlichen Bedarf wie z. B. Winterbekleidung u. ä. Das entfiel. War angeblich eingerechnet, tatsächlich aber gestrichen. Aber die mit Rechentricks ermittelte Höhe (mir sträuben sich die Nackenhaare bei Verwendung dieser beiden Wörter) galt dann auch als Nachweis, die Höhe der früheren Sozialhilfe sei korrekt festgelegt worden.

Nicht nur ich, sondern auch die Sozialverbände kommen da auf ganz andere Summen – aber haben Anspruchsberechtigte in diesem Sozialsystem eine wirksame Lobby? Nein – entschieden wird nach Kassenlage, und die ist immer klamm. Wie war das eigentlich noch bei der Bankenkrise? Da purzelten die Milliarden einfach so aus dem Steuersäckel. Arme sind einfach nicht systemrelevant und Artikel 1, Abs. 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“) gilt für sie offenbar nur eingeschränkt. Denn eins sollte klar sein: Armut ist eine Verletzung der Menschenwürde. Die evangelische Theologin Dorothee Sölle hat das folgendermaßen formuliert: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er stirbt auch am Brot allein.

Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil festgelegt, die Grundsicherung solle die Teilhabe am sozio-kulturellen Leben ermöglichen. Leider hat es nicht angegeben, welchen Rahmen diese Teilhabe erfüllen muß, sie also gewissermaßen ins Belieben des Gesetzgebers gestellt.

Wie sehr Armut in Deutschland als Thema zwar virulent, aber nicht präsent ist, zeigt sich an einem Beispiel. Als es vor Jahren um eine Erhöhung des Wohngeldes ging, sollten ausgerechnet Alleinerziehende nach der ursprünglichen Planung von dieser Erhöhung ausgeschlossen werden. Dies hätte also eine Bevölkerungsgruppe getroffen, die von Armut ohnehin schon am stärksten bedroht ist. Man könnte mich gar nicht derart mit Alkohol abfüllen, daß mir ein derartiger Unfug in den Sinn käme. Und die entsprechenden Leute in der Ministerialbürokratie wurden dafür noch bezahlt. Das hätte ich billiger und besser hinbekommen.

Als Gegenpol kann man die Vermögenssteuer betrachten, die ja gar nicht neu eingeführt, sondern nur wieder erhoben werden müßte. Aber seit Helmut Kohls Kanzlerschaft ist sie ausgesetzt, und keine Regierung danach fand sich dazu bereit, das zu ändern. Auch Olaf Scholz wird daran wohl nicht rühren. Bei der FDP wundert es ja nicht, wenn sie sich ihrer vermögenden Klientel verpflichtet fühlt. Aber warum auch andere Politiker die Privilegien der Vermögenden als sakrosankt ansehen, kann ich nicht verstehen. Ich möchte an den Artikel 14 GG erinnern: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Zurück zur dunklen Seite der heutigen Gesellschaft. Wie lebt es sich mit diesem Existenzminimum? Ich gehe dabei einfach mal von mir aus. Ich habe ein Zimmer im Haus Martin, einer Wohneinrichtung. Also keine eigene Wohnung, sondern ein Leben in einer Wohngruppe. Vorher war ich obdachlos und lebte auf der Straße. Wenn ich beides vergleiche, war ich damals finanziell bessergestellt. Ich bekam den vollen Regelsatz und hatte keine festen Ausgaben. Ich mußte nur zusehen, mich zu ernähren, und das ist in der Stadt Aachen nicht allzu schwer. Den Rest des Geldes hatte ich zur freien Verfügung.

Jetzt ist der Rahmen enger gefaßt. Aber es gibt einen immateriellen Zugewinn: Privatsphäre. Das ist ein Vorteil, den wahrscheinlich niemand so richtig würdigen kann, der nicht einmal umständehalber darauf verzichten mußte, wie z. B. im Krankenhaus – und das ist noch die milde Variante. Ein weiterer Pluspunkt: Ich muß nicht jeden Tag aufs Neue überlegen, wie ich den Tag verbringe. Im Sommer ist das noch relativ problemlos, aber jetzt in der kalten Jahreszeit? Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie unangenehm es war, mit steifer Muskulatur aus den Schlafsack zu steigen und danach eine gute Stunde daran zu arbeiten, die Körpertemperatur auf ein normales Niveau zu bringe. Falls es denn gelang. Auch Wärme oder allgemein der Schutz vor Wetter und anderen Unbilden gehört also zum Existenzminimum. Das scheint trivial, aber die Zahl der Obdachlosen hat zugenommen und Obdachlosigkeit ist in Zeiten von Corona und den damit verbundenen Einschränkungen ein gutes Stück unkomfortabler geworden. Und ich weiß, wovon ich rede.

Ein besonderer Aspekt verdient hier noch Erwähnung: Kinderarmut. Die Bertelsmann-Stiftung hat dazu entsprechende Zahlen veröffentlicht: sie liegt mittlerweile durchschnittlich bei über 20 %. Es ist und war meiner Meinung nach ein fundamentaler Irrtum, dieses Problem als bloßes Anhängsel der Armutsproblematik zu sehen. Die Sichtweise der Politik war offensichtlich: Kinder sind kleiner und brauchen daher weniger. Kinder haben aber eine verblüffende Eigenschaft: Sie wachsen und wachsen damit aus ihrer Kleidung heraus und haben je nach Alter spezielle Bedürfnisse. Wenn dies konsequent beachtet würde, käme vielleicht sogar ein erhöhter Bedarf dabei heraus. Aber solche Überlegungen sind natürlich (natürlich?) nicht opportun. Kinder sind nun einmal keine kleinen Erwachsenen, sondern etwas ganz Eigenständiges. Ich wünschte, die Einsicht in diese Tatsache würde so schnell wachsen wie die Kinder.

Aber ein Leben unter den Regeln von Hartz IV hat noch einen Aspekt, der viel zu selten in der Diskussion ist: Hartz IV ist für viele Bezieher eine Einbahnstraße. Ich erinnere mich an den Bericht von jemandem, der freiwillig ein Jahr auf diesem Niveau lebte. In dem Beitrag gab er aber zu, daß es manchmal ohne die Hilfe von Freunden nicht gegangen wäre. Der für mich entscheidende Unterschied ist aber die zeitliche Dimension: Der Selbstversuch war auf ein Jahr befristet und unterschied sich damit grundlegend vom Bezug von Hartz IV. Da lebt man nämlich im ständigen Bewußtsein, jetzt zum Bodensatz dieser Gesellschaft zu gehören und mit einer nur geringen Hoffnung, dies aus eigener Kraft ändern zu können. Wenn man einem Menschen aber die Hoffnung nimmt, nimmt man ihm auch die Zukunft.

Mich erinnert das an ein Experiment, das mit irgendwelchen Kleintieren durchgeführt wurde. Man ließ sie in einen Behälter mit Wasser schwimmen, aus dem sie nicht herauskonnten. Irgendwann verließ die Tiere die Kraft und sie gingen unter. Hielt man ihnen aber ab und zu einen Stab ins Wasser, an den sie sich klammern konnten, hielten sie deutlich länger durch.

Einen solchen Stab aber reicht den Beziehern von Hartz IV niemand.