Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Farben

Das Farbsehen ist also ein reizvolles evolutionäres Accessoire. Nicht zwingend notwendig, aber doch ganz nett.

Nichts scheint uns so selbstverständlich zu sein wie Farben. Sie umgeben uns. Aber gibt es so etwas wie Farbe überhaupt? Die Frage ist auf den ersten Blick unverständlich, denn wir sehen sie ja in unserer Umgebung.

Physikalisch ist Farbe Licht einer bestimmten Wellenlänge. Das Spektrum des Lichts, das wir mit dem Auge wahrnehmen können, reicht etwa von 380 – 750 Nanometern, also Millionstel Millimetern, und diese Wellenlängen erscheinen uns von rot, orange, gelb, grün, blau bis violett.

Aber haben die Gegenstände in unserer Umgebung wirklich eine Farbe? Wir nehmen ja nur das Licht wahr, das von ihnen reflektiert wird. Ein Gegenstand, der das Licht sozusagen verschluckt, erscheint uns schwarz, einer, der alle Wellenlängen reflektiert, als weiß. Dazwischen liegen alle möglichen Schattierungen und Farbabstufungen.

Es gilt, eine Unterscheidung treffen: die physikalische Wellenlänge und die physiologische Farbwahr­nehmung. Beide sind zwar miteinander verknüpft, aber nicht identisch. Mein Auge, bzw. die Rezeptoren in der Netzhaut reagieren auf das Licht und senden entsprechende Signale an das Gehirn, das aus der Gesamtheit dann ein Bild konstruiert. Letzteren Begriff habe ich ganz bewußt gewählt. Die Existenz von optischen Täuschungen zeigt, daß Sehen auch viel auf Interpretation durch das Gehirn beruht. Aber langsam.

Das Auge verfügt über zwei Arten von Rezeptoren, Stäbchen und Zäpfchen. Stäbchen unterscheiden die Helligkeitswerte, also Schwarz und Weiß und deren Zwischenstufen. Daneben sind sie auch für das räumliche Sehen und Kontraste zuständig. Die Zäpfchen reagieren auf je eine der drei Grundfarben Rot, Grün oder Blau. Wir verfügen über mehr als 100 Millionen dieser Sinneszellen, und aus dieser riesigen Datenmenge erzeugt das Gehirn ein Bild unserer Umwelt. Eine gewaltige Rechenleistung, denn dieses Bild muß ja ständig aktualisiert werden. Dagegen sieht jeder Computer blass aus.

Wie das Gehirn es anstellt, aus dieser riesigen Datenmenge Bilder zu kontruieren, die uns eine Orientierung ermöglichen, ist weitgehend unbekannt. Man kann zwar messen, welche Gehirnareale bei welchen Bildern aktiv werden, aber der genaue Mechanismus ist noch unverstanden. Die Forschung steht dabei vor demselben Problemen wie bei der Sequen­zierung eines Genoms, also der Erbinformation. Vor Jahren geisterte die Meldung von deren „Entschlüsselung“ durch die Medien. Ich fand diesen Begriff schon immer ein wenig groß­kotzig. Was hat man denn wirklich erreicht? Man hat, ähnlich wie bei einem Puzzle, die Teile des Genoms in die richtige Reihenfolge gebracht. Vielleicht macht ein Vergleich das deutlicher. Wenn ich ein Buch in russischer Sprache zerfleddere und es dann wieder richtig zusammen­setze, habe ich noch kein Wort dieses Buches verstanden, ich habe es nur richtig sequenziert.

Wir sehen also unsere Umwelt. Aber schon die Beschränkung auf einen bestimmten Frequenz­bereich setzt dem Grenzen. Wir können weder Infrarot wahrnehmen – außer mit technischer Unterstützung -, noch den ultravioletten Teil des Spektrums. Da ähnelt das Sehen dem Hören. Auch da sind wir auf einen kleinen Ausschnitt beschränkt. Trotz dieser Einschränkung reicht es offenbar aus, damit wir uns in der Welt orientieren können. Schließlich hat es evolutionär einen gewaltigen Zeitraum gegeben, in dem sich das Sehen entwickelt hat. Da gab es sicher viele Entwicklungen, die in der Sackgasse landeten.

Ich bin in einem Alter, in dem ich mich an Zeiten erinnern kann, wo das Fernsehen sich auf Schwarzweiß, also Graustufen beschränkte. Man nahm es einfach hin, schließlich stand in der Fotografie auch erst diese Einschränkung auf dem Plan. Deshalb wirkten die Bilder oder Filme nicht im eigentlichen Sinne unnatürlich, nur anders. Es fehlte eben die Farbe. Das ist einem Jugendlichen heute wahrscheinlich so schwer zu erklären wie der Umstand, daß Telefone einmal fest mit einem Kabel verbunden waren.

Wir empfinden eine farbige Umwelt auch deshalb als natürlich, weil wir es gar nicht anders gewohnt sind. Farben treten oft erst in den Fokus unserer Wahrnehmung, wenn sie „nicht richtig“ sind. Selbst wenn ich es nicht riechen kann, wäre mir ein Stück Fleisch, das leicht grünlich schimmert, doch mindestens supekt. Eine mit Lebensmittelfarbe blau gefärte Banane weckt nicht unbedingt die Lust, hineinzubeißen. Und was wäre, wenn mit Kajal, Lippenstift oder Nagellack nicht farbliche Akzente gesetzt werden könnten, die Aufmerk­samkeit erzeugen? Oder mit Mode allgemein? Farben haben dadurch einen Signalcharakter. Sie weisen auf eine Unstimmigkeit hin oder wecken eben unser Interesse.

Der Umgang mit Farben ist auch emotional. Als ich noch jünger war (ja, da gab es die Welt schon!), hatte ich ein ausgesprochenes Faible für die Farbe Rot. Eine ganze Zeit trug ich fast ständig einen roten Overall. Als ich ihn das erste Mal anzog, fühlte es sich für mich an, als wäre ich in meine richtige Haut geschlüpft

Eine weitere sehr komplexe Leistung des Gehirns bei der Farbwahrnehmung ist die soge­nannte Farbkonstanz. Das bedeutet, daß mir beispielsweise eine reife Tomate unabhängig von den Lichtverhältnissen immer als rot erscheint. Zwar nehmen ich dabei durchaus andere farbliche Nuancen war, aber die Farbe wird als Rot erkannt. Das setzt allerdings ein Mindest­maß an Helligkeit voraus. Sinkt sie unter eine bestimmte Schwelle, werden nur Grauschat­tierungen wahrgenommen, da nur die Stäbchen aktiviert werden. Trickreich mischt dann das Gehirn die erinnerten Farbwerte dazu, so daß auch die Dämmerung nicht farblos bleibt. Wirklich sehen tun wir diese Farben also nicht, sie sind Interpretation. Da treibt es das Gehirn mal richtig bunt.

Das Sehen von Farben ist bei Tieren durchaus vorhanden, aber nicht bei allen Tierarten. Das berühmet rote Tuch beim Stierkampf ist für den Stier von der Farbe her völlig uninteressant, ihn interessiert nur die Bewegung des Stoffes.

Das Farbsehen ist also ein reizvolles evolutionäres Accessoire. Nicht zwingend notwendig, aber doch ganz nett.