Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist also etwas Relatives.

In ihrem Amtseid bekunden Bundeskanzlerin/Bundeskanzler, „Gerechtigkeit gegen jeder­mann üben“ zu wollen. Sarkastisch könnte ich anmerken: Dann übt mal schön! Ich gebe zu, der Kalauer ist ein wenig billig, aber wenigstens ein amüsanter Einstieg in das Thema. Und ich will ja auch meinen Spaß haben. Für’s Geld allein tue ich es nämlich wirklich nicht.

Gerechtigkeit also. (Ich könnte mir jetzt einen Seitenhieb auf die „Bezahlung“ hier gönnen, aber ganz so billig mache ich es mir nicht. Die Frage des gekaperten Copyrights habe ich da noch gar nicht erwähnt.)

Was ist gerecht? Es gibt ja das schöne Bonmot „Zwei Juristen, drei Meinungen“, und fragte ich auf der Straße einige Passanten, wäre das schon eine sehr entschiedene Haltung. Jeder hat so seine Meinung, was denn eigentlich gerecht wäre, und je nach Thema käme da eine ganz erkleckliche Anzahl an Ansichten zusammen.

„Das ist ungerecht“, beschwert sich der 5jährige, wenn die nur ein Jahr ältere Schwester eine Stunde länger aufbleiben darf. Schon Kinder haben also ein Gefühl für Gerechtigkeit, und wissen dies auch sehr gezielt einzusetzen.

Aber an diesem Beispiel läßt sich auch gut erkennen, was wir als ungerecht empfinden: Wenn wir anders als ein anderer Mensch behandelt werden. Nach „zweierlei Maß“ möchte keiner gemessen werden.

In der letzten Woche ging eine Meldung eher en passant durch die Nachrichten: Es war ein Gemälde versteigert und für einen sehr ansehnlichen Betrag verkauft worden. Anbieter waren die Erben. Das Erbgut war im Dritten Reich konfisziert und den rechtmäßigen Erben zurück­gegeben worden. So weit, so wirklich gut. Aber ich habe mir dabei auch die Frage gestellt, wie gerecht es ist, wenn jemand derartige Reichtümer einzig aus dem Grund erhält, weil er die richtigen Eltern hatte.

Der Zugewinn an Reichtum durch Erbschaft ist ja so selten nicht, und oft trifft da Geld auf Geld. Arme haben schließlich nicht viel zu vererben. Die ohnehin schiefe Vermögensverteilung wird auf diese Weise immer schiefer.

Aber neben dieser materiellen Seite hat sie noch eine soziale. Seit der Corona-Pandemie wissen wir, wie „systemrelevant“ nicht nur Banken sind, sondern auch das Personal beim Discounter oder im Krankenhaus es ist. Die Chancenungerechtigkeit z. B. im Bildungswesen ist legendär. Aber hat sich daran wirklich etwas geändert im Laufe der letzten Jahrzehnte? Meines Erachtens eher nicht. Immer noch hängt der Bildungserfolg wesentlich vom sozialen Status der Eltern ab. Der in den 70er Jahren propagierte „Aufstieg durch Bildung“ hat wesentlich nicht stattgefunden.

Oder betrachten wir einmal die Chancen von Frauen im Beruf. Da ist die Doppelbelastung durch Haushalt und Beruf oft unverrückbar bei den Frauen hängen geblieben. Die Corona-Pandemie hat sogar zu einer weiteren Verfestigung beigetragen. Da fallen Beispiele wie die anfangs mit sehr großer Skepsis betrachtete Annalena Baerbock eben genau deshalb auf, weil sie so selten sind. Kompetenz ist also nicht das Unterscheidungskriterium, sondern das Geschlecht. Ich hatte ja in den vergangenen Jahrzehnten gehofft, derart gestrige Konstrukte würden nicht mehr grei­fen, muß aber sehen, daß ich da zu optimistisch war. „Old habits die hard“, singen die Stones, und das Gesicht von Mick Jagger ist wohl auch ein optischer Hinweis auf die Alther­gebrachtheit mancher Attitüde Frauen gegenüber.

Bei dem Thema Gerechtigkeit fällt mir immer ein Satz ein, der mir anfangs der 70er Jahre in einem Hörspiel auffiel und der sich in meinem Gedächtnis eingenistet hat: „Sie haben Schlips und Kragen erfunden und mich nicht gefragt.“

Für mich bedeutet dies, daß ich in ein soziales System hineingeboren wurde, auf dessen Gestalt ich keinerlei Einfluß hatte. Ich kann mich noch gut an einen Satz erinnern, den einer meiner Lehrer am Gymnasium von sich gab: „Auch ein Handwerker kann ein guter Staats­bürger sein.“ Was er damit sagen wollte: Der Sohn eines kleinen Beamten (immerhin!) solle bitte auf eine Schule gehen, auf die er besser paßt oder gleich ein Handwerk erlernen.

Unser Eindruck von Gerechtigkeit basiert also oft auf tradierten Werten und Systemen. Damit möchte ich nicht sagen, daß diese schon allein deshalb negativ zu bewerten sind. Durch meine Lesefreudigkeit bin ich auf eines gestoßen, das in Teilen selbst nach heutigen Maßstäben als durchaus modern betrachtet werden kann.

Es handelt sich dabei um die Romane des britischen Historikers Peter Berresford Ellis, der unter dem Pseudonym Peter Tremayne historische Kriminalromane schrieb. Seine Ermittlerin ist die irische Nonne und Rechtsgelehrte Fidelma von Cashel, praktischerweise noch die Schwester des Königs. Wobei die Rolle des Königs im damaligen Irland eher repräsentativ war und mit der heutigen Rolle des deutschen Bundespräsidenter vergleichbar ist.

Diese Romane spielen im 7. Jahrhundert in Irland. Das hört sich alles andere als modern an. Aber manche Sachen waren es durchaus. So konnte ein Paar ein Jahr lang gewissermaßen eine „Ehe auf Probe“ führen und sich nach diesem Jahr entscheiden, ob sie sie fortführen wollten oder nicht. Wenn man das mit den rechtlichen Regeln im Deutschland der 60er/70er Jahre vergleicht, dann sieht die junge Bundesrepublik ganz schön alt aus. Insgesamt stand das irische Recht in einem bemerkenswerten Kontrast zum von der katholischen Kirche favorisierten römischen Recht, das eher auf Strafe abzielte. Das irische Recht sah dagegen eher einen, modern gesprochen, „Täter-Opfer-Ausgleich“ vor.

Rechtssysteme, allgemein alle sozialen Systeme, haben oft unterschiedliche Maßstäbe. Ich kann mich daran erinnern, daß ich als Jugendlicher mal einen Kurs über politische Systeme besucht habe, verbunden mit der naiven Erwartung, die „richtige“ Sichtweise kennenzuler­nen, also eine „objektive“ Erkenntnis. Heute weiß ich es besser; ob ich dadurch auch klüger bin…

Gerechtigkeit ist also etwas Relatives. Der Begriff ist nur innerhalb eines rechtlichen oder auch nur gedanklichen Systems sinnvoll anzuwenden.

Ich nehme als aktuelles Beispiel mal den Krieg in und um die Ukraine. Von dem Standpunkt aus gesehen, der auch von EU und NATO vertreten wird, daß es sich dabei um einen völkerrechtswidrigen Angriff auf einen souveränen Staat handelt, ist das Handeln Putins zu verurteilen.