Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Gleichzeitigkeit

Gleichzeitigkeit ist also ein Konstrukt. Allerdings eines, das die sensorischen Beschränkungen unserer Wahrnehmung insofern korrigiert, daß wieder eine mit der Realität übereinstim­men­de Sicht der Welt entsteht: Kontinuität.

Auf dieses Thema bin ich durch ein Erlebnis gekommen, das ich mit einer Mischung aus Über­raschung und Amüsiertheit registriert habe. Es ging dabei um die Zeitangaben im Videotext des Fernsehens. Da wird ja, meist oben rechts, die aktuelle Zeit eingeblendet. Da ich neugierig und manchmal auch verspielt bin, habe ich die Zeitangaben bei einem Programm verglichen, einmal im Normal-Modus und einmal in HD. Es ergab sich bei der Zeitangabe eine Differenz von ca. 4 Sekunden, die Abweichung von der Zeit meiner Uhren betrug etwa 8 Sekunden. Als Referenz dienten mir dabei mein Funkwecker, ein DAB+-Radio und mein Computer, der sich per Internet synchronisiert, und die drei sind sich einig, was die Zeitangabe angeht.

Aber lassen wir diese technischen Details. Die Frage nach der Gleichzeitigkeit ist nämlich viel interessanter, weil vielschichtiger.

Beim Hören müssen zwei Reize etwa 2 ms auseinanderliegen, um noch als getrennt wahr­genommen zu werden, beim Sehen 20 ms. Um diese Reize in eine korrekte zeitliche Abfolge zu bringen, braucht es unabhängig von der Art des Reizes zwischen 30 bis 50 ms. Diese Unterschiede bzw. die Gleichheit der Verarbeitungs-Zeit deutet also auf sehr komplexe Vorgänge bei der Verarbeitung hin.

Diese Trägheit der Wahrnehmung macht Kino und Fernsehen erst möglich, denn es werden uns ja eine Reihe von Einzelbildern präsentiert, die in unserer Wahrnehmung zu einer gleichmäßigen Abfolge verschmelzen. Ich kann mich aus meiner Kindheit noch an das sogenannte „Daumenkino“ erinnern. Es handelte sich dabei um kleine Bücher, etwa so groß wie eine Streichholzschachtel. Die einzelnen Seiten waren mit einfachen Bildern bedruckt, die sich nur in Details unterschieden. Faßte man die obere oder untere Kante des Buches und ließ die einzelnen Seiten über den Daumen rutschen, ergab sich der Eindruck einer fließenden Bewegung.

Ein umgekehrter Effekt stellt sich ein, wenn eine Szene mit einer Stroboskop-Lampe ange­strahlt wird. Sie sendet in kurzen Abstände Lichtimpule aus, die für unsere Wahrnehmung eine fließende Bewegung als deutlich wahrnehmbare Einzel­bilder erscheinen läßt, abhängig von der Blitz-Frequenz.

Gleichzeitigkeit ist also ein Konstrukt. Allerdings eines, das die sensorischen Beschränkungen unserer Wahrnehmung insofern korrigiert, daß wieder eine mit der Realität übereinstim­men­de Sicht der Welt entsteht: Kontinuität.

Gut, beim Sehen ist damit klar, wie Gleichzeitigkeit zustande kommt. Wenn ich diese Erklärung aber auf das Hören übertragen will, bekomme ich sozusagen einen „gedanklichen Schluckauf“. Musik entsteht ja ebenfalls durch eine Zusammenfassung des Gehörten zu einer Melodie – vereinfacht gesagt. Wie wirkte sich ein akustisches Stroboskop aus – etwa wie Techno, wo es ja auch um beats per second geht? Ich kann mich nicht erinnern, eine akustische Wahr­nehmung in der Form wie beim Sehen auseinanderbrechen zu hören.

Wir können Zeit ja nicht direkt wahrnehmen, sondern nur über die Veränderungen in der Wahrnehmung. Daher ergeben sich große Unterschiede, wie wir sie wahrnehmen. Wenn ich beim Arzt warte, bis ich aufgerufen werde, kann sich die Zeit unglaublich dehnen. In ein intensives Gespräch vertieft oder in ein Buch, einen Film kann unsere zeitliche Wahrnehmung gewissermaßen den Turbo zuschalten und die Zeit vergeht wie im Flug. Zeit ist für uns keine objektive Größe, die gewissermaßen losgelöst von uns besteht, sondern eine sehr subjektive, auf das persönliche Erleben bezogene. Unbeschadet dessen versuchen wir aber, die Zeit in handhabbare Größen aufzuteilen – von der Sekunde bis zum Jahrhundert und darüber hinaus. Mit steigender Länge werden solche Zeiträume weniger erlebbar. Ein Tag am Strand, ein paar Wochen Urlaub, das ist noch überschaubar. Aber ein Jahrhundert ist nur noch Zahlengröße.

Ein weiterer Umstand kommt dazu: Ein Gebirge kommt uns statisch vor und der Fels in der Brandung steht für Unerschütterlichkeit. Aus den Geowisschenschaften wissen wir, daß auch Berge und Kontinente weit davon entfernt sind, unveränderlich zu sein. Nur spielt sich das in Zeiträumen ab, die unsere Lebensspanne weit übersteigen. Auch Bäume oder die Pflanzen im Garten haben, oft dem scheinbaren Lauf der Sonne über den Himmel folgend, ein durchaus „bewegtes“ Leben, das wir erst durch Zeitraffer-Aufnahmen wahrnehmen können oder im täglichen Steigen der Wuchshöhe. Direkt beobachten können wir das nicht.

Den Gegenpol dazu bilden Aufnahmen in Zeitlupe. Da spielen sich in kurzer Zeit eine Menge von Ereignissen ab, die unser Bewußtsein wegen der Kürze der Zeit gar nicht erst erreichen.

Die angeblich so objektive Naturwissenschaft hat ebenfalls ihre Probleme mit der Zeit und damit der Gleichzeitigkeit. In der klassischen Mechanik z. B. war sie eine konstante Größe und keinen Veränderungen unterwor­fen. Es ist heute nur noch schwer vorstellbar, daß es einmal eine Zeit gab, in der die Physik als eine Wissenschaft in der Endphase galt. Was war noch zu entdecken? Seit der Quantenphysik und der Relativitätstheorie ist der Physik diese Sicherheit abhanden gekommen. Gleichzeitig? Ja, aber nur innerhalb eines definierten, gemeinsamen Bezugssystems.

Beim Begriff der Gleichzeitigkeit geht es mir wie mit vielen anderen Begriffen: Auf den ersten Blick intuitiv faßbar, auf jeden weiteren Blick zunehmend fremdartiger. In Bezug auf Sprache habe ich einmal den Satz gehört, je vertrauter man die Wörter anschaue, desto fremder schauten sie zurück. Da soll noch mal jemand behaupten, Sprache sei nicht Wirklichkeits-nah.