„Statt Einfalt und Zwietracht Zwiefalt und Eintracht“. Das Motto hat es mir angetan, denn sonst hätte es sich nicht über die Jahrzehnte hinweg in meinem Gedächtnis halten können.
Der Rote Faden
Von Rolf Mackowiak
Zwiefalt und Eintracht
Der Titel dieses Beitrags bedarf wohl ein wenig der Erklärung. Er stammt aus einem Science-Fiction-Hörspiel, bei dem es darum ging, Astronauten für die möglichen Kontakte mit Außerirdischen zu trainieren und fremde Kulturen mit einem Kernsatz zu beschreiben. Der ganze Satz lautete: „Statt Einfalt und Zwietracht Zwiefalt und Eintracht“. Das Motto hat es mir angetan, denn sonst hätte es sich nicht über die Jahrzehnte hinweg in meinem Gedächtnis halten können.
Wir sind ja geistesgeschichtlich oft noch Gefangene der Zweiwert-Logik: Eine Sache ist entweder so oder sie ist nicht so. Dazwischen existiert nichts, ein Drittes existiert nicht (tertium non datur). Aber jeder weiß von sich, daß nichts so einfach strukturiert ist. Die Dialektik unternahm den logischen Dreisprung von These, Antithese und Synthese, in dem Gegensätzliches eben doch in einem dritten aufgelöst und aufgehoben wurde.
Die Sache ist ja vordergründig auch ganz einfach: Entweder ist es Tag oder es ist nicht Tag, also Nacht. Die Dämmerung kommt darin aber nicht vor, obwohl jeder weiß: sie existiert.
Worauf ich hinauswill: Ein solcher Denkansatz zwingt dazu, Fragen in bestimmter Weise zu stellen, die Realität in gegensätzliche Paare zu teilen. Aber wird das der Realität gerecht? Ich weise nur darauf hin, wie viele Spezialdisziplinen sich in der Wissenschaft entwickelt haben. („Hält die Teile in der Hand, fehlt leider nur das geist’ge Band.“ meinte Goethe dazu)
Nehmen wir ein Beispiel aus der physikalischen Optik. Ist Licht eine Welle oder ein Teilchen? Für beides gibt es experimentelle Nachweise. Vom klassischen Verständnis der Physik her ist es unmöglich, daß beides richtig sein kann. Ist es aber. Ich bin weit davon entfernt, diesen Welle-Teilchen-Dualismus wirklich zu verstehen. Eine Brotscheibe ist nun einmal keine Wurstscheibe. Punkt. Nur schert das Licht sich nicht darum, wie wir es denn gerne hätten. Es ist gewissermaßen Wurst und Brot zugleich, je nach Blickwinkel.
Auch die Trennung zwischen Rationalität und Emotionalität ist so eine künstliche Trennung. Jeder kennt sicher das Gefühl, in einen anderen Menschen verliebt zu sein – ein sehr irrationaler Zustand (wenigstens zeitweise). Aber ist es deshalb auch unvernünftig, sich zu verlieben? Es gehört einfach zum Leben dazu. Mir fallen bei diesem Gegensatzpaar immer einige Zeilen von Novalis ein: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / sind Schlüssel aller Kreaturen / Und die, so singen oder küssen / mehr als die Tiefgelehrten wissen“. Ganz intuitiv ist uns klar, daß der Verstand nur eine Instanz in unserer Persönlichkeit ist. Aber Rationalität ist wesentlich eine Rationalität der Sprache, und was sich ihr entzieht bzw. sich in ihr nicht vollkommen exakt ausdrücken läßt, gilt als weniger verläßlich.
Dabei vertrauen wir dem nicht-rationalen Teil unserer Person sehr oft; die Werbung lebt davon. Beim Kauf eines neuen Pullovers z. B. ist neben der passenden Größe auch dessen Gestaltung wichtig: welcher Schnitt, welche Farbe, welches Muster usw. Da folgen wir dann unserem „Bauch-Gefühl“. In dem Fall finden wir es völlig normal, uns nicht allein (oder auch nur ansatzweise) an rationalen Gesichtspunkten zu orientieren.
Ich hatte in der Schule einen ausgesprochenen Hang zu den Naturwissenschaften, auch wenn ich mit der Mathematik nie so recht warm wurde. Die Naturwissenschaften hatten für mich etwas gleichsam Überschaubares – im Gegensatz zu den zwischenmenschlichen Beziehungen, die für mich immer etwas undurchschaubar, wenn nicht bedrohlich wirkten und ich war in der Hinsicht in meinem Verhalten eingeschränkt. Ob meine Angststörung sich daraus entwickelte oder umgekehrt sie für diese Einschränkungen verantwortlich war, mag ich nicht entscheiden. Auch wenn diese Ängste längst nicht mehr so wirkmächtig sind, wie sie es in meiner Jugend waren, so bestehen sie in bestimmten Situationen immer noch und es ist für mich oft unkalkulierbar, wann sie sich in Erinnerung bringen. Was mich dabei immer wieder irritiert, ist ihre Resistenz gegen rationale Erklärungen und Einsichten. Auch wenn ich mit dem Verstand übereinstimme, daß an einer Situation nun wirklich nichts Bedrohliches ist, so ziehen mir diese Ängste doch oft den Boden unter den Füßen weg und machen mich nur eingeschränkt handlungsfähig. Dabei weiß ich aus meiner Erfahrung, als wie grundlos sich diese Ängste meist herausstellen. Aber wenn ich z. B. in einer Prüfung war, hat mir das nicht im Mindesten geholfen, hilft auch heute kaum.
Dieser innere Zwiespalt kann sehr belastend sein. Ich bin da wie ein Schiedsrichter, der in einer der Mannschaften mitspielt und trotzdem neutral sein soll. Nicht so einfach zu realisieren, manchmal gar nicht.
Wenn ich mir den Erfolg anschaue, den Richard David Precht mit Büchern wie „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“ hat, dann scheine ich mit diesem Konflikt nicht allein zu sein. Ich habe das für mich mal auf die Formel „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust / und sorgen für erheblich Frust“ gebracht. (Da lacht sich nicht nur Goethe ins „Fäustchen“.)
Anders gesagt: Wir sind keine Individuen – dem Wortsinn nach also unteilbar, sondern wir vereinen viele unterschiedliche Aspekte in unserer Person. Welcher zum Tragen kommt, hängt auch davon ab, in welcher Situation wir uns befinden. Wer geht nicht unwillkürlich vom Gas, wenn er hinter sich ein Polizeifahrzeug wahrnimmt? Wo in einer vergleichbaren Situation eher die Devise „Porsche – na und?“ gilt und noch ein wenig beschleunigt wird.
Auf der anderen Seite heißt das auch, daß wir mit solchen Situationen sehr flexibel umgehen können. Wir haben also keine eindeutigen Verhaltensmuster, die auf ähnliche Situationen einfach nur starr angwendet werden, sondern haben die Freiheit, diese Muster an die konkrete Situation anzupassen. Womit aber noch nicht gesagt ist, daß unsere Entscheidung im Einzelfall so wahnsinnig vernünftig ist. Die Freiheit zum Handeln ist auch eine Freiheit zum Irrtum. Das meine ich keinewegs ironisch. Für mich zählt es zu den Grundfreiheiten des Menschen, sich irren zu dürfen: Wir sind unvollkommen. Und das ist gut so.