Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Grenzen

Grenzen sind grundsätzlich etwas Trennendes.

Grenzen sind grundsätzlich etwas Trennendes. Meine Haut grenzt mich von der Umwelt ab. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Schutz für meinen Körper und sinnliche Verbindung zu dieser Umwelt.

Auch Staatsgrenzen haben diese Doppelfunktion. Die EU grenzt sich ganz deutlich gegen unerwünschte Zuwanderung ab – allen Bekenntnissen zum Asylrecht zum Trotz. Die russische Invasion in der Ukraine war eine doppelte Grenzüberschreitung. Einerseits direkt militärisch, aber auch durch die völkerrechtswidrige Handlung einem souveränen Staat gegenüber. Für mich, nicht erst durch die Vorfälle in Butscha, auch eine Überschreitung moralischer Grenzen.

Wir begegnen Grenzen im Alltag in vielfältiger Weise. Am augenfälligsten sind Grenzen, die wir gar nicht als solche betrachten: die Wände der eigenen Wohnung. Sie schützen unsere Privatheit vor den Blicken anderer und erlauben es uns, nach eigenen Vorstellungen zu leben, ohne Interventionen von dritter Seite befürchten zu müssen. Die Unverletzlichkeit der Wohnung steht nicht umsonst unter verfassungsrechtlichem Schutz. Jeder, der einmal Opfer eines Einbruchs geworden ist, kennt das Gefühl der Schutzlosigkeit, das damit verbunden ist und das oft schmerzhafter empfunden wird als der materielle Verlust.

Es gibt auch immaterielle Grenzen. Wer uns, ob im Wortsinn oder in übertragener Bedeutung, zu nahe tritt, verletzt unsere persönlichen Grenzen. Jemanden Haut-nah an sich heranzulassen ist eine Frage des Vertrauens und der Vertrautheit. Der Aufenthalt in einem überfüllten Raum wird kaum als angenehm erlebt.

Eine andere wichtige Grenze, die uns gesetzt ist, betrifft die wirtschaftlichen Verhältnisse. Wenn ich nicht das Geld aufbringen kann, mir eine Reise zu leisten oder ein größere Wohnung zu mieten, ist auch das eine Aus-Grenzung. Ich bin in meiner Freiheit eingeschränkt, mich zu entfalten und meine persönlichen Grenzen zu erweitern.

Nicht immer sind wir uns der Existenz von Grenzen bewußt, oft werden sie auch bewußt ignoriert. Lange waren Luft und Wasser eine fast kostenlose Ressource, mit der entsprechend sorglos umgegangen wurde. Unser Wirtschaftssystem ist so angelegt, daß ein nahezu grenzenloses Wachstum Voraussetzung ist. Zwar hat sich diese Sichtweise – ich fürchte, nur ansatzweise – geändert, aber im Kern beruht unser Wirtschaften auf dem weitgehenden Ignorieren dieser Grenzen. Wir exportieren z. B. unseren Plastikmüll, der uns damit zwar aus den Augen, aber nicht aus der Welt ist. Selbst in Polargebieten findet sich Mikro-Plastik, und die Vermüllung der Weltmeere mit Plastikmüll steht auch nicht gerade im Fokus unserer Lebensgestaltung.

Wann ist genug genug? Es gibt ja die „Trickle-down“-Theorie, in der die Auffassung vertreten wird, wenn die Reichen nur reich genug wären, dann würde auch für den Rest genug abfallen. Der Haken dabei: Viele Reiche werden gar nicht das Gefühl haben, genug zu besitzen. Ich erinnere mich an den Bericht über eine Frau in New York, die ein beträchtliches Immobilien­vermögen verfügte, ihr Einkommen aber nicht versteuerte und deswegen zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. In einem kurzen Spot meinte sie ernsthaft: „Steuern zahlen doch nur die anderen.“

Mahatma Gandhi wird der Satz zugeschrieben, die Welt habe genug für die Bedürfnisse aller, aber zu wenig für die Gier mancher. Siehe oben.

Damit komme ich auf ein Gebiet zu sprechen, zu dem ich ein sehr ambivalentes Verhältnis habe, der Mathematik. Zahlen spielen in ihr eine wichtige Rolle. (Das ist nicht trivial!) In unserem Alltag begegnen sie uns in der Uhrzeit, dem Datum und nicht zuletzt in den Preisen für gekaufte Waren. 0 und 1 sehen auf den ersten Blick ganz harmlos aus, aber was ist nicht alles dazwischen! Da gibt es die uns vertrauten rationalen Zahlen, also Brüche, die durchaus ihre Tücken haben. ½ und 1/5 lassen sich als 0,5 und 0,2 problemlos als Dezimalbrüche darstellen. Aber schon 1/3 ist gemein. Als Dezimalbruch hat sie nämlich unendlich viele Stellen.

Wenn ich eine beliebige Zahl durch 2 teile und das Ergebnis wiederum, komme ich an kein Ende – es gibt immer eine noch kleinere Zahl, die sich wieder in eine noch kleinere teilen läßt. Kurz gesagt: Zwischen 0 und 1 gibt es unendlich viele Zahlen, und das gilt für alle Zahlenpaare, deren Zahl wiederum unendlich ist. Eine unendliche Menge an Unendlichkeiten.

Die Fotos des Weltraumteleskops James Webb reichen fast bis an die Grenzen des uns bekannten Universums. Liegt hinter dieser Grenze noch etwas? Wir wissen es nicht und werden es wohl auch nie erfahren. Die Bilder sind sicher beeindruckend, aber können sie uns wirklich einen Eindruck von der Größe des Universums geben, ein Gefühl für die Weite?

Wir leben auf der Erde. Wir nehmen Platz ein. Aber worin? Anders gefragt: Was ist Raum? Schon bei einer so scheinbar einfachen Basisgröße unserer Welt geraten wir gedanklich ins Schleudern, also an die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit.

Grenzen werden auch durch soziale Normen gesetzt, sei es eher informell oder in der Form von Gesetzen. Beide Formen setzen ein Mindesmaß an Konsens voraus. Unsere Gesellschafts­ordnung ist nur eine mögliche Form. Sie hat sich über die Jahrhunderte zu dem entwickelt, was wir heute als demokratisch verfaßte Gesellschaft kennen. Es gab aber schon immer andere Vorstellungen davon, wie eine Gesellschaft verfaßt sein soll. Oft sind sie religiös unterfüttert. Ob es sich um die Wiedertäufer in Münster oder die in Saudi-Arabien geltende wahabitische Form des Islams handelt – beide haben bzw. hatten einen Absolutheitsanspruch.

Aber unterscheidet sich das wirklich grundsätzlich von dem Weltbild eines Donald Trump, für den nur wahr ist, was er dafür hält?

Anders gefragt: Muß ich die Haltung von Menschen tolerieren, die sich ausdrücklich weigern, meine Vorstellungen zu tolerieren? „Man wird doch noch mal sagen dürfen…“ ist zum Mantra von Anhängern der AfD oder gar Reichsbürgern und ähnlich Gesinnter geworden. Leider haben sie darüber hinaus wenig zu sagen und die Fähigkeit, zuzuhören ist nicht gerade eine der Haupttugenden solcher Menschen.

Meine Antwort auf obige Frage ist also: Nein, muß ich nicht! Intoleranz verdient keine Toleranz. Dummheit verdient keine Toleranz. Da setze ich eine ganz klare Grenze.