Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Homo Sapiens

„Homo sapiens“ bedeutet etwa „der vernunftbegabte Mensch“.

„Homo sapiens“ bedeutet etwa „der vernunftbegabte Mensch“. Mir als denkendem und mit­lei­dendem Zeitgenossen ploppt da nicht nur ein Fragezeichen vor dem inneren Auge auf. Sind wir damit wirklich richtig bezeichnet?

Fangen wir im Kleinen an, unserem Alltag. Jeder möchte sich gesund ernähren und dabei möglichst noch die Umwelt schonen. In der Praxis sieht das schon nicht mehr so eindeutig aus, da hat der Preis ein wichtiges Wort mitzureden. Es ist dabei auch nicht besonders umwelt­schonend, daß die meisten Produkte in Kunststoffolien verpackt sind. Da kommt beim Einzelnen im Laufe der Woche schon eine ganze Menge Müll zusammen. Aber außer bei Obst und Gemüse sind die Waren eben nicht unverpackt zu bekommen, und auch da ist der 6er-Pack mit Äpfeln oft von Folie umgeben, Orangen und Mandarinen von einem Kunststoffnetz.

Betrachtet man sich den Verkehr in der Stadt – und das ist wesentlich der Autoverkehr – dann wimmelt es im Stadtbild von Autos (auch Busse sind Automobile), die mit einer, höchstens zwei Personen besetzt sind, die dann ja irgendwann auch Parkraum brauchen. Die meisten werden noch von einem Verbrennungsmotor angetrieben. Doch auch die E-Mobiliät ist nicht ohne. Woher kommt der Ladestrom? Unter welchen Bedingungen wurden die sogenannten Seltenen Erden und das Lithium gefördert?

Es ist eben gar nicht so einfach, ein guter Mensch zu sein.

In den vergangenen Monaten kam es immer wieder mal zu Einschränkungen bei Autobahn-Brücken. Allein in NRW sind über 300 davon sanierungsbedürftig und daher teilweise nur beschränkt befahrbar. Woher kommt diese Häufung? Die einfache Antwort: Man hat die notwendigen Maßnahmen zur Erhaltung der Brücken aus Kostengründen immer wieder auf­ge­schoben und das war deren Erhaltungszustand eben nicht zuträglich. Sehr vernünftig war das offenkundig nicht.

Einen ähnlichen Sanierungsstau gibt es bei Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden. Man hat – oft wider besseren Wissens – nötige Baumaßnahmen unterlassen. Jetzt fallen uns die versäumten Maßnahmen eben auf die Füße.

Allein diese wenigen Beispiele zeigen, daß es mit der Vernunft in der Politik nicht so weit her ist und ich muß an den Schriftsteller Günter Eich denken, der die Unbelehrbarkeit der Menschen immer wieder thematisierte.

Das Paradoxe an der Situation ist: Wir wissen das alles und bleiben doch merkwürdig untätig. Man mag über die Aktionen der Letzten Generation unterschiedlicher Meinung sein, aber in einem haben sie unzweifelhaft recht: Wenn wir unseren Lebensstil nicht nachhaltig verändern, werden die Resultate uns einholen. Auch ein Nicht-Handeln ist effektiv: es hat eine Wirkung. Am 4. Mai 2023 war für Deutschland der „Earth Day“, also der Tag, an dem wir die Ressourcen für das ganze Jahr bereits verbraucht haben. Was wir für die restlichen 2/3 des Jahres noch brauchen, müssen wir anderen wegnehmen. Das betrifft in der Hauptsache die Dritte Welt. Wir handeln also im globalen Sinn sehr asozial.

Es gibt im Welthandel ein großes Ungleichgewicht. Rohstoffe sind für die Industriestaaten ziemlich billig, einzig die OPEC hat für einen Spezialbereich eine große Gewinnmarge erreicht. Aber auf lange Sicht ist ein solches Verhalten auch nicht gut für die Wirtschaft. Wenn wir uns darauf verlassen, billige Rohstoffe einzukaufen und teure Fertigprodukte zu exportieren – wie sollen die Rohstofflieferanten auf Dauer dieses Ungleichgewicht stemmen, also unsere Waren bezahlen? Noch funktioniert dieses System, aber es kann nicht ewig betrieben werden.

Wir folgen da kollektiv einem ziemlich verrückten Denken. Nicht nur der DAX ist auf ein ständiges Wachstum ausgelegt, das gilt allgemein für die Wirtschaft. Dabei ist schon der Begriff „Wachstum“ sehr fragwürdig. Was wächst da? Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Eine Fabrik kommt ja nicht ohne Abfall bei der Produktion aus, den man wohl kaum auf Dauer auf dem Betriebs­gelände lagern kann. Die Fabrik stellt also Waren her, die sie verkauft und dabei entsteht Müll. Um diesen Müll loszuwerden, beauftragt sie eine Firma, diesen zu verarbeiten und bezahlt dafür. Die Fabrik macht also Gewinn mit den hergestellten Waren und der Entsorger mit dem dabei anfallenden Müll. Klingt nach einer Win-Win-Situation. Aber ist es wirklich ein qualitatives Wachstum? Es wird Gewinn vermehrt, aber beim praktischen Nutzen ist da doch ein dickes Fragezeichen angebracht. Wenn mir zu Hause etwas auf den Boden fällt und zerbricht und ich diese Scherben dann wegräume – macht mich das reicher? Wohl kaum, aber die Wirtschaft funktioniert so.

Ein Paradebeispiel für grassierende Unvernunft war für mich der Zerfall Jugoslawiens. Bevölkerungsteile, die weitgehend konfliktfrei miteinander gelebt hatten, entdeckten plötzlich, daß sie Serben, Kosovaren, Montenegriner usw. waren und schlugen sich die Schädel ein. Ähnliches gilt in anderen Konflikten wie in Ruanda, als Tutsi und Hutu sich bekämpften oder die Verfolgung der muslimischen Rohingya in Myanmar. Auch der Krieg in und gegen die Ukraine ist ja mit Vernunftgründen nicht zu fassen.

„Homo homini lupus“ ist ein auch Nicht-Lateinern bekannter Satz. Der polnische Aphoristiker Stanisaw Jerzy Lec ergänzte ihn um die Worte „ach wären wir doch so human“. Ähnliches gilt für den Gattungsnamen Homo sapiens: Ach wären wir doch so vernünftig.