Ich habe mir den Fuß gebrochen. Vielleicht zu meinem Glück. Wie kann das ein Glück sein? Ich formuliere es einmal anders: Vielleicht hat ein kleines Unglück ein größeres verhindert.
Der Rote Faden
Von Rolf Mackowiak
Lamento
Die älteste Klage, die mir bekannt ist und die darüber sinniert, wie die Zeit vergeht und wie die Vergangenheit immer schemenhafter wird, stammt von Walther von der Vogelweide, ja nun wirklich kein Zeitgenosse (etwa 1170 – 1230). Ich habe sie als Vertonung der Gruppe Ougenweide gehört, die heute wohl auch niemand mehr kennt. Das wahr um das Jahr 1970.
Ich habe jetzt ein Alter erreicht, indem auch ich manchmal dazu neige, den vergangenen Zeiten nachzutrauern. Dann holt mich die Gegenwart ein und mir wird wieder bewußt, daß ich ohne die Vergangenheit zwar nicht der Mensch wäre, der ich heute bin, aber daß ich eben heute bin. Je besser ich mich kennenlerne, desto mehr schätze ich mich. Der Typ, der mich beim Rasieren im Spiegel an schaut, ist ein prima Kumpel. Ich weiß: Eigenlob stinkt, aber dieser Satz ist geruchsfrei, weil reine Selbsterkenntnis.
Ich habe einige üble Zeiten durchlebt, die zwar mies waren und die ich nicht ein zweites Mal erleben möchte. Manches wirkt bis heute nach, aber es ist meine Entscheidung, ob ich die Vergangenheit die Gegenwart bestimmen lasse. Manche Erinnerungen haben aber ein erstaunliches Beharrungsvermögen.
Das Motto „Ohne mich fehlt mir was“ ist eine ganz gute Beschreibung dessen, was mir in der Zeit oft fehlte. Mir fällt dazu ein Satz eines deutschen Mystikers ein, in dem es sinngemäß heißt, man solle den Mist der eigenen Vergangenheit auf das Feld de Lebens streuen, damit etwas Gutes gedeiht. Das versuche ich, aber oft genug muß ich feststellen, daß ich auch in der Hinsicht keinen „grünen Daumen“ habe…
Wie sehe ich mein Leben – auch, aber nicht vor allem – in der Rückschau und mit Blick auf mein jetziges Leben? Bin ich zufrieden, oder trauere ich verpaßten Chancen nach?
Nun, ich halte es da lieber mit einem spanischen Sprichwort, das auf den ersten Blick etwas seltsam klingt: Ich habe mir den Fuß gebrochen. Vielleicht zu meinem Glück. Wie kann das ein Glück sein? Ich formuliere es einmal anders: Vielleicht hat ein kleines Unglück ein größeres verhindert. Dann ergibt das schon mehr Sinn.
Ich lebe einfach gern, und wenn die Sterblichkeit im evolutionären Sinn durchaus ihre Funktionalität hat, so ist sie doch in meinen Augen durchaus verzichtbar. Leider sitzt die Evolution da am längeren Hebel. Aber es liegt ja an mir, meine Lebenszeit so zu gestalten, daß ich mit mir und der Welt im Einklang bin. Da muß ich nicht in jedem Punkt vor Begeisterung aus dem Häuschen geraten, aber zum Gegenteil ist meist auch kein Anlaß vorhanden.
Es gibt allerdings zwei Dinge, von denen ich hoffe, daß ich ihnen entgehe: Einem völligen Erblinden und einem so massiven Schlaganfall, daß ich keinerlei Kontrolle mehr über mein Leben habe. Ich habe dies bei meinen Eltern hautnah erlebt, und das wünsche ich keinem, am wenigsten mir selbst. Die Tatsache, daß meine Eltern von einem Tag auf den anderen nicht mehr ohne Hilfe auskommen konnten und ich jetzt etwa in dem Alter bin, in dem ihnen dies widerfuhr, ist keine besonders aufmunternde Perspektive. Was ich daran noch beängstigender finde: Ich weiß nicht und kann es mir auch nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, so eingeschränkt zu sein. Ich erinnere mich aber auch daran, daß meine Mutter wenige Tage vor ihrem Tod von einer unerklärlichen Heiterkeit erfüllt war. Über die Gründe rätsele ich bis heute.