Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Maßstäbe

Was mich an vielen Diskussionen stört: Es geht um Zahlen, nicht um Menschen.

Im Wortsinn sind Maßstäbe Gegenstände, um eine bestimmte Größe zu ermitteln, sie machen also vergleichbar. Wichtig sind sie aber auch im übertragenen Sinn und haben annähernd dieselbe Funktion: Eine Sache an einer anderen zu messen.

Zwei Ereignisse haben bei mir jüngst die Frage aufgeworfen, wonach da manchmal gemessen wird, und zwar die Razzia bei Reichsbürgern und Konsorten und der Forderung, die Aktionen der „Letzen Generation“ polizeilich oder gar vom Verfassungsschutz überwachen zu lassen. Ich finde beides nämlich überhaupt nicht vergleichbar. Letztere auch noch als „kriminelle Vereinigung“ zu sehen, ist für mich mindestens fragwürdig, wenn nicht gar grober Unfug. Man kann über den Sinn der Aktionen geteilter Meinung sein, daß es sich aber um gewaltlose Aktionen handelt, steht für mich außer Frage.

Da werden für mich, wie es redensartlich so schön heißt, Äpfel mit Birnen verglichen. Während die Reichsbürger auf sehr aktive Weise diesen Staat in Frage stellen, sind mir solche Tendenzen bei der Letzten Generation nicht bekannt. Da soll wohl eher das eigene schlechte Gewissen entlastet werden, denn in vielen Bereichen wird die Politik ihren eigenen Maßstäben nicht gerecht.

Da geht es oft mehr um die Deutungshoheit, neudeutsch „Framing“, als um die Sache. Es ist ja auch nicht ganz so einfach, der Realität Rechnung zu tragen, denn sobald ein Sachverhalt konkret wird, wird er auch schwierig.

Kaum einer wird sich gegen Umweltschutz aussprechen. Aber sobald die Frage aufkommt, ob nicht vielleicht ein Tempolimit einen wirksamen Beitrag dazu darstellen kann, wird es komplizierter, denn da ist jeder betroffen, der ein Auto besitzt und fährt. Gerade beim Auto werden aber viele regelrecht hysterisch und die Bedrohung der persönlichen Freiheit wird an die Wand gemalt. Aber ist es nicht auch eine Einschränkung der persönlichen Freiheit, wenn ich mich nicht entscheiden kann, ob ich abgasgeschwängerte Luft atmen will oder nicht, weil sie einfach präsent ist? Ich erinnere mich dabei an ein Plakat von Klaus Staeck zur Luftverschmutzung durch die Industrie, auf dem es hieß „Die Luft gehört allen. Aber wir bestimmen ihren Giftgehalt.“

„Freiheit“ gehört für mich zu den Begriffen, die ich für mich „Fetisch-Wörter“ nenne. Der Begriff von Freiheit, den z. B. Herr Lindner vertritt, unterscheidet sich sicher in zentralen Punkten von dem meinen. Er vertritt gerne die Eigentums-Garantie des Grundgesetzes Artikel 14. Den Passus „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll Zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ findet er – wie viele andere auch – dann nicht ganz so wichtig. Aber beides gehört nun einmal zusammen.

Eine andere Lösung ist es, Begriffe umzudefinieren. „Sozial ist, was Arbeit schafft“ ist so eine Umdeutung. Ob diese Arbeit auch ausreichend entlohnt wird, um das Leben zu sichern und zu gestalten, tritt dann in den Hintergrund.

So geht es aber mit vielen Dingen: Wer A sagt, muß auch B sagen. Aber in bestimmten Belangen befällt dann manche die Sprachlosigkeit. Wer über Armut redet, muß auch über Reichtum reden. Wer Menschenrechte z. B. in Qatar einfordert, sollte sich doch mal die Praxis des Pushbacks an europäischen Grenzen anschauen. Der Teufel steckt nicht immer im Detail.

Um sich nicht ständig mit dem eigenen schlechten Gewissen herumzuplagen, gibt es ein passendes Schlupfloch: die „Realpolitik“. Im Grunde das Eingeständnis, daß man zwar Grundsätzen zustimmt, sein Verhalten aber leider nicht daran orientieren kann. So ein Pech!

Aber man sollte mit solchen Vorwürfen auch ein wenig vorsichtig sein. Wie steht es denn mit dem eigenen Verhalten? Abfallvermeidung – na klar! Aber der Becher vom Coffee to go landet dann doch im nächsten Papierkorb – bestenfalls. Oder zählen sie mal, wie viele Atemmasken sie auf dem Bürgersteig entdecken. Die Schwierigkeit besteht ja darin, daß ein individuelles Verhalten dann zum Problem wird, wenn es beispielsweise von 20 Millionen Menschen geteilt wird. Was individuell vernachlässigbar ist, wird kollektiv zur Grundsatzfrage.

Einen wichtigen Maßstab für die Politik stellt das Grundgesetz dar. Aber auch dabei darf man nicht in allen Fällen zu genau hinschauen. So sind Abgeordnete „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ (Artikel 38). Von Fraktionszwang ist im GG keine Rede; er ist aber gang und gäbe.

Oder nehmen wir die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das klingt auch heute, über 70 Jahre nach seiner Verabschiedung, noch wie ein schönes Märchen. Dazu muß man sich nur den Frauen­anteil im Parlament insgesamt (etwa 30 %) bzw. in den Fraktionen anschauen: Am größten ist er bei den Grünen, am kleinsten bei der AfD (etwa 50 zu 10 %). Und in der Wirtschaft sieht es kaum besser aus. Können wir es uns angesichts der gegenwärtigen Probleme überhaupt erlauben, dieses Potential brachliegen zu lassen?

Natürlich können die Verantwortlichen immer gute Gründe für dieses Mißverhältnis anführen, manche sind sogar nachvollziehbar. Es bleibt aber die unbestreitbare Tatsache, daß die Teilhabe am politischen und wirtschaftlichen Geschehen nicht den Anteil der Frauen an der Bevölkerung widerspiegelt.

Auch in der Medizin gibt es einem befremdlichen Maßstab: Medikamente werden hauptsächlich an Männern getestet. Die Existenz von – sagen wir: gewissen biologischen Unterschieden – wird da oft übergangen. Was auch nicht in die Bewertung einfließt: Die Reaktion des Körpers auf bestimmte Substanzen ist ebenso von der Tages- als auch der Jahreszeit abhängig.

Ähnlich ist das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern. In vielen Bereichen werden Kinder einfach als kleinere Erwachsene behandelt. Der frühe Schulbeginn ist aber für viele Kinder einfach völlig unbrauchbar, weil ihr biologischer Rhythmus anders ist. Das hat Folgen für die Aufmerksamkeit und die Lernfähigkeit. Das ist keine neue Erkenntnis, aber die wird weitgehend ignoriert.

Oder werfen wir einmal einen Blick auf unser soziales Sicherungssystem. Da wird oft nur auf die finanzielle Seite geschaut, obwohl das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, daß eine Teilhabe am sozio-kulturellen Leben möglich sein muß. Angesichts der rapiden Preissteigerungen der letzten Monate ist das nur ein frommer Wunsch, denn oftmals reicht das Geld nicht mal für die Nahrungsmittel. Die steigende Armut in Deutschland, immerhin eines der reichsten Länder der Welt, ist ebenso schändlich wie beschämend. Wie die evangelisch Theologin Dorothee Sölle es einmal sagte: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er stirbt auch am Brot allein.

Was mich an vielen Diskussionen stört: Es geht um Zahlen, nicht um Menschen. Zahlen sind vergleichbar, Menschen – mangels fester Maßstäbe – eher nicht. Da kommt es dann zu manchmal sehr abstrusen Meldungen. Vor etlichen Jahren trumpfte die Zeitung mit den großen Buchstaben mal mit der Meldung auf, 147 € reichten zum Leben. Da war dann aber auch alles herausgerechnet, was das Leben ein wenig erträglicher macht und rein auf die Erhaltung der physischen Existenz reduziert. Daß dies von einem Professor mit lebenslanger Anstellung stammt, zeigt die dahinterstehende Geisteshaltung: die Armen sollen sich mal nicht so anstellen. Da werden aber Maßstäbe angelegt, die solche Menschen auf sich selbst sicher nicht angewendet wissen wollen. Mir fällt dazu eine Zeile aus einem Lied von Melanie Safka ein: „Hearing the news ain’t like being there / Nothing is real  unless it’s happening to you.“

Ich könnte auch Novalis anführen: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / sind Schlüssel aller Kreaturen“. Allerdings waren seine Maßstäbe sehr religiös geprägt und mir daher unzugänglich.

Die Debatte um LGBTQ und Sprache finde ich ebenso interessant wie nervig. Es ist ja in der Tat nicht einzusehen, warum sich Frauen mit dem generischen Maskulinum immer mitgemeint fühlen sollen. Mir ist dazu eine vielleicht zu einfache Möglichkeit eingefallen. Wie wäre es, wenn die grammatische Form sich am Sprecher/der Sprecherin orientierte? Ein konkretes Beispiel: Ich bin ein Mann, aber wenn eine Frau diesen Text liest oder hört, wäre ich demnach die Verfasserin bzw. die Sprecherin, sie aber mein Hörer, nicht meine Hörerin. Vielleicht zu einfach für unsere komplizierte Welt, aber vielleicht auch ein Anfang ohne Gender-Sternchen und Innen-Majuskeln.

Und jetzt habe ich einen nach meinen Maßstäben viel zu langen Text geschrieben und setze ein Punkt.