Aber noch heute bin ich der Überzeugung, daß es neben der Welt, die ich täglich erlebe, noch Dinge gibt, die mir in diesem Alltag nicht zugänglich sind.
Der Rote Faden
Von Rolf Mackowiak
Mystik
Schon der Begriff hat etwas Mystisches denn vom Wortsinn bedeutet sie etwas Verschlossenes, nur dem Eingeweihten Bekanntes. Sie bezeichnet vor allem die christliche Mystik, hat also einen starken religiösen Bezug. Bekannte Mystiker in Deutschland waren z. B. Meister Eckhart und Johannes Tauler. Mystik sucht die Vereinigung mit dem Göttlichen („unio mystica“) und war der traditionellen Kirche eher suspekt, denn die Aussagen der Mystiker waren nicht immer mit der tradierten Lehre der Kirche vereinbar. Die Mystiker standen auch vor dem Problem, ihren Erfahrungen einen angemessenen sprachlichen Ausdruck zu geben.
Im Taoismus gibt es eine Frage zu Lao-Tsu, von dem das Tao-Te-King stammt: „Wer weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nicht. Wie kommt es dann, daß Lao-Tsu, der doch ein Wissender war, ein Buch von 1000 Wörtern schrieb?“
In dem Verlangen, ihrer Erfahrung Ausdruck zu verleihen, griffen Mystiker oft auf solche Paradoxien zurück.
Die Aussage von Juan de la Cruz „Gott ist Nichts“ traf natürlich den Kern der christlichen Lehre. Aber sein „Nichts“ war eben nicht die Leugnung Gottes, sondern als Transzendierung des gängigen Gottesbildes gemeint. Mystik als Gottes-Erfahrung in Abgrenzung zum Gottes-Glauben.
Meister Eckhart war es, der dies in die Worte faßte: Man solle sich nicht mit einem gedachten Gott begnügen, denn wenn der Gedanke verschwindet, verschwindet auch Gott. Meine Formulierung. Ich erinnere mich noch, wie sehr ich eine Textzeile von ihm anfangs mißverstanden hatte. Ich habe die Zeile nicht mehr ganz präsent, aber sie lautet etwa: Wo immer du in der inneren Schau auf dich triffst, das laß dich. Ich hatte das so verstanden, daß dies eine Aufforderung sei, zu verweilen. Wie ich bei meiner weiteren Beschäftigung mit Eckhart erkennen mußte, meinte er etwas grundlegend anderes: „da laß von dir ab“, löse dich von allem, was „Ich“ ist.
Im japanischen Zen-Buddhismus spielen Koans eine wichtige Rolle. Verkürzt gesagt stellen sie Fragen dar, auf die es keine rationale Antwort gibt. Ein Beispiel: Ein Meister klatscht in die Hände und fragt dann: Wie ist der Klang einer Hand? Unser in Dualitäten gespaltenes Bild der Welt soll durch solche Paradoxa aufgebrochen werden.
Ich stehe dabei vor dem Problem, keine solchen mystischen Erfahrungen zu haben, bin auch eher areligiös. Aber ich erinnere mich an ein Erlebnis beim Hören von Musik. Die Gruppe hieß „Tomorrow‘s Gift“ und als ich ein Stück hörte – ich lag ganz entspannt auf meinem Bett – hatte ich ein Erlebnis, das mich noch heute machmal beschäftigt. Das Stück endete mit einem langen Flötensolo. Die Erde sackte auf einmal unter mir weg, ich zog am Mond vorbei und weiter ins Sonnensystem bis zum Saturn. Als ich mich dem Saturn näherte, wölbten sich die Ringe auf wie eine Flüssigkeit, in die ein Tropfen fällt. Aber zugleich hatte ich den Eindruck, diese Aufwölbung der Ringe ähnle mehr dem Geweih eines Damhirsches. Und dann war das Stück aus und ich wieder auf der Erde. Ich habe mehrmals versucht, diese Erfahrung zu wiederholen; gelungen ist es mir nicht. Aber noch heute bin ich der Überzeugung, daß es neben der Welt, die ich täglich erlebe, noch Dinge gibt, die mir in diesem Alltag nicht zugänglich sind.
Manchmal helfen mir sprachliche Kniffe, mich Dingen anzunähern, gegen die sich mein Verstand sperrt. Da hilft manchmal ein Blick auf die moderne Physik, die ja auch nicht frei von Paradoxien ist; ich denke da vor allem an den Welle-Teilchen-Dualismus. Mir erscheint meine Alltagswelt ja als sehr solide, und wenn ich mir den Finger einklemme, kann ich den Schmerz nicht mit der Erkenntnis, vor mir sei wesentlich leerer Raum, vertreiben. Wenn ich mir dann aber überlege, wie wenig Substanz ein Atom im Verhältnis zu seiner Größe hat, die meiste Masse im Atomkern konzentriert – kann ich es mir dann nicht vielleicht als „geformte Leere“ vorstellen? Ist natürlich unphysikalisch, aber diese Krücke hilft mir ein wenig dabei, diese scheinbare Solidität zumindest ein wenig in Frage zu stellen.
Fritjof Capra hat in einem Buch (Das Tao der Physik) ja mal versucht, die Ähnlichkeiten fernöstlicher Mystik und moderner Physik zu zeigen. Soche Versuche hinterlassen bei mir immer einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits ist es natürlich gedanklich schon interessant, solche Parallelen zu zeigen, auf der anderen Seite ist natürlich keine allzu große Schnittmenge zwischen Mystik und Physik vorhanden. Manchmal erscheint mir das wie der Versuch, mystische Erfahrungen in die Rationalität einzugemeinden.
Zumindest eine Idee dahinter ist aber nicht von der Hand zu weisen: Ein Ziel kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Aber wenn – wie es heißt – der Weg das Ziel ist, macht das doch einen Unterschied.
Das ist einer der faszinierenden Aspekte der Mystik: Egal ob sie einen christlichen, islamischen, jüdischen oder buddhistischen Ausgangspunkt haben, sind sich die Erfahrungen der Mystiker doch frappierend ähnlich. Der Satz „Gott ist Nichts“ ist nicht so weit von der Aufforderung „Wenn du Buddha triffst, erschlag ihn“ entfernt.
Worin sich die verschiedenen mystischen Traditionen ebenfalls ähneln: sie verabscheuen jedes Dogma. Mystik ist eine Frage der persönlichen Erfahrung. Mich erinnert das an das Motto, das Doris Lessing ihrem Roman „Anweisungen für einen Abstieg zur Hölle“ voranstellte: „Category inner space fiction – for there’s no way to go but in“.