Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Unterschiede

Was so leicht daherfliegt, wie lange ist darauf gebrütet worden?

Es sind oft Kleinigkeiten, die einen großen Unterschied machen, aber es sind nicht immer die Nuancen, die ins Auge fallen. Auch wenn mir der Unterschied zwischen den Aussagen „Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren“ und „Rußland darf ihn nicht gewinnen“ nicht so wirklich deutlich wird. Wo verläuft da die Bedeutungs-Grenze?

Unterschiede können also scharf gefaßt werden im Sinne eines Widerspruches. Die Grenzen können aber auch weicher verlaufen. Die Unterscheidung zwischen „männlich“ und „weiblich“ war früher deutlicher zu fassen als es heute der Fall ist, was nicht zuletzt mit dem Rollenbild in der Gesellschaft zusammenhängt.

Ein ganz klares Bild davon hat offenbar Markus Söder, denn in Bayern ist jetzt amtlich das Gendern in schriftlicher Form untersagt. Das ist doch wirklich ein Meilenstein für den Schutz der deutschen Sprache!

Ich habe mal eine junge Frau gefragt, was sie von der Diskussion ums Gendern hält. Ihrer Meinung nach sei das nicht unwichtig, aber ungleich wichtiger wäre ihr eine gleiche Bezahlung für die gleiche Arbeit und die Beseitigung anderer Ungleichheiten. Soll da vielleicht dieses Thema hinter einem  „Gender-Schleier“ verdeckt werden?

Wenn etwas unterschiedlich ist, ist es auch unterscheidbar, es läßt sich also einordnen. Eine Unterscheidung kann aber auch implizit eine Wertung enthalten. Nehmen wir mal das „Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“. Frauen treten also erst an dritter Stelle hinter den Senioren auf. Zufall? Schließlich trifft sich das mit dem GG, in dem die Gleichberechtigung von Frauen und Männern auch erst in Artikel 3 erwähnt wird…

Unsere Gesellschaft ist nicht homogen, sie enthält viele Gruppen, die sich oft überschneiden. Nehmen wir die offensichtlichsten beiden Gruppen, Männer und Frauen, dann ist das eine eindeutige Unterscheidung. (Ich lasse mal die ganze Diskussion um LGBTQ unberücksichtigt.) Jetzt stelle ich eine ganz einfache Frage: Bildet sich diese Verteilung (49,2 : 50,8) im Bundestag ab? Oder in den Vorständen der Aktiengesellschaften? Ganz eindeutig nicht. Man kann diesen Unterschied einfach konstatieren oder sich fragen, woher dieses Mißverhältnis kommt.

Es gibt noch andere Bereiche mit einem krassen Mißverhältnis. Es ist seit Jahren bekannt, daß der Bildungserfolg in Deutschland viel stärker vom sozialen Status der Eltern abhängt als dies in unseren Nachbarländern der Fall ist. Nochmals: Dieses Mißverhältnis ist seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten bekannt. Geändert hat sich wenig bis gar nichts.

Ein anderer aktueller Unterschied in der Wahrnehmung: Die Proteste der Bauern gegen die Senkung der Diesel-Subvention (die mittlerweile ein Todesopfer gefordert haben, weil ein Autofahrer nachts einen auf der Straße abgeladenen Misthaufen übersah, da er nicht gesichert bzw. erkennbar gemacht worden war) und die Klebe-Aktion der „Letzten Generation“. Was wiegt da nun schwerer?

Ähnlich bedeutungsschwer kommt die CDU nun mit ihrer Idee der „Neuen Grundsicherung“ daher. Natürlich gilt es wieder, den sog. „Leistungs-Mißbrauch“ zu bekämpfen und die „Totalverweigerer“ in die Schranken zu weisen. Wer sollte auch gegen die Bekämpfung eines Mißbrauchs staatlicher Leistungen sein? Die ganze Sache hat nur einen Haken: Es gibt über die „Totalverweigerer“ keinerlei statistisch belastbares Material. Im Klartext: Da wird ein Popanz aufgebaut, und in dessen Schatten prügelt die CDU – allen voran mein Lieblings-Millionär Friedrich Merz – auf alle Empfänger des Bürgergeldes ein.

Dabei wird großzügig darüber hinweggesehen, daß drei Viertel der Empfänger aus den verschiedensten Gründen gar nicht erwerbsfähig sind. Der Anteil der sog. Totalverweigerer kann nur geschätzt werden; er soll zwischen 1 – 3 % der Leistungsempfänger liegen. Diese marginale Gruppe bestimmt also die Diskussion über das Bürgergeld. Eine seriöse Diskussion kann ich darin nicht entdecken.

Ich habe in meinen anderen Beiträgen schon mehrfach darauf hingewiesen, daß komplexe Fragen keine einfachen Antworten haben können. Ich kann nur vermuten, daß der Drang zur Abgrenzung bei politischen Äußerungen zu dieser Verflachung der Darstellung führen. Intellektuell unredlich sind sie allemal.

Das ist auch der Punkt, der mich am meisten ärgert: die Verflachung der Argumentation. Es gibt nur „Ja“ oder „Nein“ – was ausgesprochen wirklichkeitsfremd ist. Es führt m. E. auch dazu, daß wichtige Themen in ihrer Bedeutung gar nicht richtig wahrgenommen werden bzw. wahrgenommen werden können.

Cannabis ja oder nein? Mir als Nichtraucher ist das ziemlich schnuppe. Aber ich weiß von mir, welche Probleme ich mit Alkohol hatte. Der aber ist weiter frei verkäuflich. Ginge man mit derselben Schärfe gegen die mit dem freien Verkauf von Alkohol verbundenen Probleme vor, wäre die Aufregung wohl groß. Wer konsumiert – egal was – wird immer der Meinung sein, die Sache doch völlig im Griff zu haben. Die meisten irren sich gründlich.

Für mich war es die einfache, gar nicht so einfache Einsicht: Ich brauche das Zeug nicht. Mir fällt dazu eine Passage aus einem Gedicht von Peter Rühmkorf ein: Was so leicht daherfliegt, wie lange ist darauf gebrütet worden.

Aber genau das war für mich die entscheidende Einsicht, auf und über die ich Jahre gebrütet habe.

Sie ist geschlüpft.