Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Realität

Realität ist das, was ich dafür halte. Das muß nicht immer im Einklang mit den Tatsachen stehen.

Realität ist einer der Begriffe, die es mir angetan haben. Wir leben in ihr. Aber er-leben wir sie auch? Ein Satz von Ludwig Wittgenstein lautet: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“. Na gut. Was aber sagt uns das? Zuerst einmal stellt sie die Existenz der Welt fest. Nicht gerade umwerfend. Aber es sind solche vermeintlichen Trivialitäten, in denen sich eine Menge Fallstricke verbergen können.

Woher wissen wir von der Welt? Wir können sie nur über unsere Sinne erfahren. Bedeutet das im Weiteren auch, daß wir sie erkennen, d. h. über die Grenzen des sinnlich Erfahrbaren hinaustreten können? Die Wissenschaft bietet uns viele Möglichkeiten, dies zu tun. Daraus leiten sich dann Theorien über die Welt ab, die in manchen Fällen zu neuen Entdeckungen führen. Lücken im Periodensystem der Element führten z. B. zur Entdeckung weiterer, noch unbekannter Elemente. Auch die Entdeckung des Planeten Neptun beruhte auf einer Berechnung.

Für uns im Alltag ist aber der sinnliche Eindruck, den unsere Umwelt bei uns hinterläßt, entscheidend. Leider sind unsere Sinne in ihrer Leistungsfähigkeit beschränkt. Was bedeutet das für unser Bild der Welt? Ich gehe mal ganz naiv an die Sache heran. Unsere Sinne haben sich in einem langen Zeitraum der Evolution entwickelt, und was wir mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen können, kann also so wichtig für unser Überleben nicht sein. Aber für die Radioaktivität haben wir kein Sensorium, sie ist für uns also nicht wahrnehmbar. Spätestens seit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki wissen wir von den Schäden, die abgesehen von der verheerenden Explosion damit verbunden sind. In der Natur werden wir solchen Strahlungswerten aber nicht begegnen, so daß diese Beschränkung auch nicht besonders  ins Gewicht fällt.

Festzuhalten bleibt aber: Es gibt in der Welt Ereignisse, die wir nicht wahrnehmen können.

Wer hatte als Kind nicht die Idee, einfach immer weiter geradeaus zu laufen, bis man an den Rand der Erde kommt? Also habe ich die Welt als eine Scheibe wahrgenommen, die eben feste Grenzen haben muß. Das galt auch lange in der Geschichte, obwohl schon in der Antike bekannt war, daß es sich bei der Gestalt der Erde um eine Kugel handeln muß. Dem Griechen Erathostenes gelang 240 v. Chr. eine Bestimmung des Erdumfangs, die sogar ziemlich genau war.

Genauso sinnlich wahrnehmbar war lange, daß die Sonne sich um die Erde dreht. Daß die Erde als Gottes Schöpfung das Zentrum des Universums sein mußte, war lange Allgemeingut und entsprach ja auch der täglichen Erfahrung. Allerdings stellte die Existenz der Planeten die Wissenschaft vor ein großes Problem, denn ihre scheinbare Bahnen am Himmel ließen sich nicht so einfach erklären. Erst der Wechsel von einem geozentrischen zum helio­zen­trischen Weltbild durch Kopernikus brachte wieder Ordnung in die Schöpfung.

Das sind Beispiele dafür, daß unsere unmittelbare Wahrnehmung nicht der verläßlichste Ratgeber ist.

Trotz dieser Belege: Im Alltag kommen wir ganz gut zurecht, und es gibt Vorgänge, die wesentlich verstörender wirken wie die anhaltende Dürre der letzten Jahre, aktuell die Hitze in ganz Europa. Das sind eben Umstände, die unser Leben in sehr viel direkterer Weise beein­flussen.

Daneben gibt es aber noch einen Umstand, der nicht vergessen werden sollte. Die oben gemachten Beispiele zeigen auch, daß unsere Ideen von der Welt deren Wahrnehmung bestimmen können. Über die Frage, ob es regnet oder nicht, kann man nicht sinnvoll streiten, denn die Tatsache ist offensichtlich. Bei den Gründen wird es dann schon etwa komplizierter.

Genau darum geht es ja z. B. bei der globalen Erwärmung. Ist die aktuelle Hitze nur Wetter oder schon Klima, also langfristig zu sehen? In dem Punkt spielen viele Interessen hinein, und im Extremfall sucht man sich die Fakten, die besser zu der eigenen Meinung passen. Wo Ideologie und Fakten aufeinandertreffen, haben die Fakten nicht immer einen leichten Stand.

Das ist ein Punkt, der mich auch bei politischen Auseinandersetzungen immer wieder irritiert: Die eigene Meinung ist wohlbegründet, die der anderen beruht auf mangelndem Wissen, wenn nicht Böswilligkeit. Leider sind die Verhältnisse nicht so einfach.

Ich nehme mal einen Umstand, der mein Leben in den letzten Jahren stark beeinflußt hat, nämlich meine Abhängigkeit von „sozialen Transferleistungen“, wie es so unschön heißt. Die Festlegung bzw. die regelmäßige Neuberechnung ähnelt einer selbsterfüllenden Prophe­zeiung. Es werden nämlich die sogenannten „Verbrauchsgewohnheiten“ beurteilt. Wie aber sollen sich solche Gewohnheiten ändern, wenn ich nur einen bestimmten Betrag zur Verfügung habe? Der Zirkelschluß: Da die Bezieher solcher Leistungen eben diesen Betrag ausgeben, ändert sich nichts an den Gewohnheiten. Wo dieses Mehr für ein verändertes Konsumverhalten dann herkommen soll, wird großzügig übergangen. Kurz gesagt: Die Leute bekommen wenig, weil sie mit diesem Wenigen auskommen – müssen. Es bleibt dabei völlig unberücksichtigt, daß die Sozialverbände schon seit Jahren einen höheren Bedarf errechnen. Aber die sind ja nicht maßgebend. Also läuft alles nach dem bekannten Motto: Irritieren Sie mich nicht mit Fakten, ich habe schon eine Meinung.

Oder nehmen wie ein aktuelles Beispiel, den sogenannten Tankrabatt. Der begünstigt Viel­fahrer und Besitzer hochmotorisierter Fahrzeuge, wie – rein zufällig natürlich – den Porsche-Fahrer und Finanzminister Christian Lindner. Ich als Bezieher der Grundsicherung, der über gar kein Auto verfügt, habe nichts davon. Leistungsgerechtigkeit á la FDP.

Hubertus Heil, seines Zeichen Minister für Arbeit und Soziales, will nun diese Berechnungs­grundlagen ändern, und prompt machen sich die Bedenkenträger aus CDU und FDP mausig. Was aus dem vollmundig angekündigten „Bürgergeld“ wird, bleibt abzuwarten.

Es gibt viele Bereiche, in denen die „richtigen“ Eltern eine wichtige Weichenstellung dar­stellen, sei es in der Bildung, sei es im Erbschaftsrecht. Besonders im Erbschaftsrecht gelten Regeln, die einfach nur antiquiert zu nennen sind. Im Kern werden Erbschaften kaum besteuert, und das berühmte „kleine Häuschen“ ist nur ein Vorwand, dies nicht stärker an die Realität anzupassen. Mit welchem Recht aber hat Reichtum einen Bestandsschutz?

Es gibt einen weiteren neuen Begriff in der Diskussion, den „Femizid“. (Neu allerdings nur in Deutschland.) Gemeint ist tödliche Gewalt gegen Frauen allein auf Grund ihres Geschlechts. Lange, zu lange wurde dieses Thema schlichtweg ignoriert. Der Umstand, daß jeden dritten Tag eine Frau von Partner bzw. Ex-Partner oder einer sonstigen Person aus dem näheren Umfeld getötet wird, wurde bislang geflissentlich nicht thematisiert.

Ergänzend zu diesem Thema eine Anmerkung. Gewalt wird oft nur als physische Gewalt angesehen. Die Gewalt, die aber psychisch z. B. von einem Stalker ausgeübt wird, kann wesentlich nachhaltiger sein. Oder nehmen wir den Fall eines Wohnungseinbruchs: Neben dem materiellen Schaden ist oft auch ein Verlust des Gefühls der Sicherheit, den die eigenen vier Wände bieten, festzustellen. Da wirkt ein Einbruch oft noch lange nach. Auch in anderer Hinsicht ist dies festzustellen. Von Heinrich Zille stammt der Satz, man könne einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt. Das bezog sich auf den Umstand, daß neu gebaute Wohnungen erst „trockengewohnt“ werden mußten. Es ist unmittelbar einsichtig, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen das für die zeitweiligen Bewohner mit sich brachte. Waren Sie schon mal in einem Rohbau mit all den Gerüchen nach Feuchtigkeit, Beton und Zement?

Diese „strukturelle Gewalt“ bedeutet ja, daß ich mit Umständen konfrontiert werde, deren Ursachen ich nicht beeinflussen kann. Mir fällt dazu ein Satz ein, den ich 1969/70 in einem Hörspiel aufgeschnappt habe: „Sie haben Schlips und Kragen erfunden und mich nicht gefragt.“

Es ist immer wieder zu beobachten, daß durch begriffliche Setzungen eine Deutung der Reali­tät vorgegeben wird. Putin führt ja keinen Krieg gegen die Ukraine, sondern führt nur eine „militärische Spezialoperation“ durch – natürlich ein gewaltiger Unterschied für die Menschen, deren Wohnungen zerbombt bzw. die durch den Beschuß getötet werden.

Aber es geht auch ein paar Nummern kleiner. Die Bundesrepublik war jahrzehntelang „kein Einwanderungsland“. Woher kamen dann nur die vielen Menschen, die keine deutschen Wurzeln hatten, und die auch heute mehr oder minder selbstverständlich unter uns wohnen? Umgekehrt waren aber die Spätaussiedler aus Rußland Deutsche,  auch wenn sie der Sprache ebenso wenig mächtig waren wie die Arbeitskräft, die aus Polen oder der Türkei zu uns kamen.

Realität ist das, was ich dafür halte. Das muß nicht immer im Einklang mit den Tatsachen stehen.