Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Religion(en)

Wenn ich mich irre, steht mir ja noch einiges bevor.

Jeder kommt mal mit der Religion in Verbindung. Ich jedenfalls wurde christlich getauft und konnte mich altersbedingt nicht dagegen wehren. Die juristische Religionsmündigkeit beginnt mit 14 Jahren. Erst dann kann man also selbst entscheiden, welcher Religion man sich verbunden fühlt – oder eben nicht.

Für mich ist es eine der rätselhaftesten Fragen, welchen Ursprung Religionen haben. Ich meine damit keine geografische Zuordnung, sondern die Frage, welche innere Verfassung zu der Entwicklung von Religionen geführt hat.

Schon aus der Frühzeit der Menschheit gibt es Funde, die auf religiöse Vorstellungen hindeuten, nicht zuletzt die Art der Bestattung von Toten. Die wurden ja, respektlos gesagt, nicht einfach verbuddelt, sondern oft geschmückt und in einer bestimmten Körperhaltung zu Grabe gebracht. Wir wissen es zwar nicht sicher, aber es deutet doch darauf hin, daß schon die frühen Menschen eine Vorstellung von einer Existenz jenseits des Todes hatten. Deren Ursprung und die genaue Form bleiben aber im Dunkel, da wir uns nur auf physische Artefakte wie die Grabbeigaben beziehen können.

Wieviel davon ist Deutung, wieviel durch Fakten belegtes Wissen? Da gibt es sicher eine breite Grauzone, denn natürlich haben wir keine schriftlichen Überlieferungen darüber.

Das setzt erst sehr viel später ein. Aber wie weit liegt das auch an den Forschungs-Schwerpunkten in der Vergangenheit? Der konzentrierte sich doch sehr stark auf die Antike und den Nahen Osten, der ja Ursprung gleich dreier Religionen war: Judentum, Christentum und Islam. Der Ferne Osten, also Indien und China – Japan kam erst später dazu  – hatte schon aus geografischen Gründen weniger Einfluß auf Europa, obwohl es mit Hinduismus und Buddhismus zwei große Religionen in der Region gibt.

Die frühen Religionen warteten oft mit einer ganzen Reihe von Gottheiten auf, die dann für jeweils einen Aspekt der Welt standen. Die griechische und römische Götterwelt war entsprechend vielfältig und viele dieser Götter hatten ausgesprochen menschlich Züge. Der blitzeschleudernde Zeus war für die Reize schöner Frauen durchaus empfänglich.

Eine ganz entscheidende Entwicklung war der Monotheismus, der sich ab etwa 1000 v. Chr. entwickelte. Der Buddhismus ist dabei der große Außenseiter, da er keine oberste Gottheit kennt. Judentum, Christentum und Islam sind die größten monotheistischen Religionen, von denen es allerdings im Laufe der Zeit auch Abspaltungen gab. Hier in Deutschland ist die Teilung der Kirche in Katholizismus und Protestantismus am augenfälligsten.

Die polytheistischen Religionen, die in vielen Naturerscheinungen eine dahinter wirkende Gottheit sahen, zeigen eine der Wurzeln dieser Religionen: den Wunsch, in die Welt der Erscheinungen eine gewisse Ordnung zu bringen und ihren Ursprung zu erklären.

Die monotheistischen Religionen machten die ganze Sache deutlich abstrakter. Zwar steht hinter der Schöpfung und dem Geschaffenen noch eine große Macht, die sich auch im Detail manifestieren konnte, aber eine direkte Zuordnung von göttlichem Wirken auf bestimmte Phänomene ist nicht mehr so offensichtlich.

Eine Ausnahme stellt, wie schon erwähnt, der Buddhismus dar. Ihn einzuordnen fällt ein wenig schwer. In der Literatur wird er u. a. als „atheistische Religion“ oder „empirische Religion“ bezeichnet. Mir ist dazu ein Satz in Erinnerung: Glaubt nicht mir, glaubt nicht den Schriften, glaubt nur, was ihr an euch selbst erlebt. Und noch radikaler: Wenn du [in der Meditation] auf Buddha triffst, erschlag ihn. Das erinnert mich ein wenig an einen Satz des katholischen Heiligen Johannes vom Kreuz: Gott ist nichts.

Ich habe mir vor vielen Jahren mit den verschiedenen Religionen beschäftigt. Genauer gesagt: Mit ihren mystischen Traditionen. Ich fand es schon erstaunlich, welche Ähnlichkeiten es da gab. Wie ich es verstanden habe – und da gibt es viele Irrtums-Möglichkeiten – war ihnen gemeinsam, daß sie den Wort-Glauben, der auf den Schriften basiert, um einen Erfahrungs-Glauben ergänzten, der andere Quellen hat. Mangels eigener Erfahrungen auf diesem Gebiet muß ich mich auf diese Aussage beschränken.

Im Daoismus gibt es einen Satz, der dieses Paradox m. E. sehr gut beschreibt: Wer weiß, redet nicht, wer redet, weiß nicht. Es gibt ja eine Redewendung im Deutschen, der dies ganz unreligiös, aber ebenso respektlos sieht: Wer es kann, macht es, wer es nicht kann, lehrt es.

Wie sieht mein persönliches Verhältnis zu Religion bzw. Religionen aus? Zwiespältig. Auf der einen Seite ist dieses Verhältnis von großer Skepsis geprägt. Das bezieht sich wesentlich auf das Christentum, aber auch andere Religionen kommen bei mir nicht besser weg. Ich bin da – was gar nicht so selten vorkommt – nicht ganz mit mir einer Meinung. Es gibt Aspekte, die mich ansprechen, aber bedeutend mehr, mit denen ich so gar nichts anfangen kann.

Nehmen wir mal die Mariengläubigkeit im Katholizismus. Jungfräuliche Geburt von Jesus und dann noch die Auferstehung samt Himmelfahrt – das streikt mein kritischer Verstand. Es gibt bei Meister Eckhart eine Deutung, die mir akzeptabel erscheint. Wenn ich ihn da richtig verstehe, ist die Jungfräulichkeit Marias mehr als ein spiritueller Status zu sehen, nicht als ein biologischer. Für ihn gehört es also dazu, daß sie auch Frau war, deren Schwangerschaft ganz normal auf Sex beruhte. Diese Deutung ist für mich akzeptabel, aber mit dem ganzen Rest kann ich definitiv nichts anfangen.

Bei meiner Beschäftigung mit dem Buddhismus hatte ich große Schwierigkeiten mit dem Begriff des Leidens. Demnach ist unsere Existenz untrennbar mit Leiden verbunden. Nun empfinde ich nicht alles, was mir im Leben begegnet, als leidbehaftet: ein gutes Essen beispielsweise. Es hat lange gedauert, bis mir eines klar wurde: Nicht der Genuß des Essens bedeutet Leiden, sondern die Vergänglichkeit dieses Moments. „Alles Vergängliche ist Leiden“, lautet meiner Erinnerung nach ein Satz. Dem kann ich folgen. Aber mir geht es dabei wie mit dem eben genannten Beispiel: Die Folgerungen, die daraus nach der Lehre des Buddhismus entstehen, bleiben mir fremd.

Wo stehe ich jetzt? Der Tod ist für mich ein Endpunkt, dem nichts folgt. Wir werden geboren, leben und am Ende sterben wir. Welcher Sinn darin steckt, ist für mich nicht erkennbar, nicht einmal, ob es diesen Sinn überhaupt gibt. Wenn ich mich irre, steht mir ja noch einiges bevor. Aber darüber sind mir keine Aussagen möglich.