Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Schamlos

Ich finde es aber schlimmer, auf alten Ideen zu beharren, als sich der Realität immer wieder von Neuem anzunähern.

Schamlosigkeit bezieht sich oft auf den mehr oder weniger freizügig, also knapp bekleideten Körper. Dabei hat dies in der Hauptsache einen Bezug auf den weiblichen Körper. Der wird auch in der Werbung oft ziemlich sinnfrei weitgehend textilfrei präsentiert.

Warum ist der nackte Körper in unserer ach so aufgeklärten Zeit immer noch ein Tabu? Wenn eine einigermaßen prominente Frau ein wenig mehr von ihrem Körper erkennen läßt  – und sei es nur ein wenig Brustansatz – dann ist das zwar nicht gerade ein Skandal, es wird von bestimmten Medien aber gerne mit einer Ausführlichkeit berichtet, die schon seltsam anmutet.

Ich selber habe ein ziemlich entspanntes Verhältnis zur Nacktheit. In vielen Fällen finde ich sie schlicht unpraktisch, anstößig eher nicht. Aber dennoch würde ich mich in der Öffentlichkeit kaum nackt zeigen. Bei der vorherrschend verbreiteten Haltung sehe ich nicht die Notwendigkeit, den Anblick meines nackten Körpers anderen Menschen quasi „aufs Auge zu drücken“.

Nacktheit hat meist unausgesprochen eine erotische, wenn nicht sogar sexuelle Konnotation. Dabei hat beides gar nicht so viel miteinander zu tun – jedenfalls meiner Meinung nach. Ein nackter Körper kann völlig unerotisch sein, wenn er nicht auf diesen nackten Anblick reduziert und durch die Umstände seiner Darstellung in diesen Zusammenhang gestellt wird.

Ich möchte einmal auf ein Gegenbeispiel verweisen. Ab und zu sehe ich Frauen, deren Körper zwar von Textil umhüllt sind, das aber im Intimbereich so knapp sitzt, daß sich die äußeren Schamlippen deutlich hervorheben. Ganz ehrlich: da fände ich völlige Nacktheit eindeutig dezenter.

Sehr irritierend fand ich daher, daß vor einiger Zeit einige Bäder Frauen gestatteten, sich dort mit freiem Oberkörper aufzuhalten. Ich kann mir nicht so recht vorstellen, daß es viele Frauen gibt, denen das ein Herzenswunsch ist.

Warum also wird Nacktheit in vielen Fällen als anstößig betrachtet? Außer der Tatsache, daß sie allgemein als mindestens unüblich gilt, fällt mir da kein Grund ein. Oder vielleicht doch: Es ist die Verbindung mit der Sexualität, die ja vor allem – aber nicht nur – in der Religion als etwas gilt, das gewissermaßen nur im Verborgenen Raum hat. Dabei ist, wie schon erwähnt, die Werbung ausgesprochen sexualisiert.

Einen Gegenpol stellt die Pornografie dar. Sie tritt ja mit dem Anspruch an, den Geschlechtsverkehr bildlich oder filmisch darzustellen – angeblich in all ihren Facetten. Sich pornografische Inhalte anzusehen ist zwar weit verbreitet, wird aber deshalb noch lange nicht als „normal“ betrachtet. Gegenstand üblichen Smalltalks dürfte er jedenfalls nicht sein.

Scham ist nicht nur ein individuelles Gefühl. Sie hat auch viel mit dem kulturellen Umfeld zu tun. Ich erinnere mich an eine Darstellung in einem Buch, bei dem eine hellhäutige Frau mit kurzem Rock einer dunkelhäutigen mit freiem Oberkörper begegnet. Beide Frauen denken von der jeweils anderen dasselbe: sie sei schamlos. Welche Form der Unbekleidetheit also mit Schamgefühlen verbunden ist, hat auch eine starke kulturelle Wurzel.

Eine besondere Rolle spielte die Scham auch in der Schöpfungsgeschichte. Als Adam und Eva von der Frucht vom Baum der Erkenntnis aßen, wurde ihnen ihre Nacktheit bewußt und sie begannen, sich zu bedecken und vor dem Auge Gottes zu verbergen. Das führte dann wegen der Verletzung des göttlichen Gebots zu der Verteibung aus dem Paradies. Die Erkenntnis gehörte also mir zur Scham.

Schamhaftigkeit oder Schamlosigkeit beschränkt sich nicht auf den menschlichen Körper. Auch das Verhalten – vor allem in der Öffentlichkeit – kann das Schamgefühl verletzen. Es scheint sich bei der Schamlosigkeit also um eine Verletzung des gesellschaftlich Akzeptierten zu handeln. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß sich jeder, der diese Konventionen verletzt, von Schamgefühlen geplagt wird. Vielleicht hält er sich einfach nur für besonders clever, daß er sich an solche kleinmütigen Regeln nicht gebunden fühlt.

Mir fallen dazu zwei Beispiele ein: der Skandal um die manipulierten Abgaswerte bei Autos und die Geschehnisse um die Cum-Ex-Geschäfte. In beiden Fällen ist für mich nicht erkennbar, daß sich einer der Täter für sein Verhalten entschuldigt hätte. Die Betrüger sehen sich selbst gar nicht so – oder geben dies zumindest vor.

Man muß sich dabei einmal vor Augen halten, daß es sich dabei ja nicht um unbedarfte Akteure handelte, sondern mit Menschen, die sich in ihrem Metier ausgesprochen gut auskannten. Ohne diese Kenntnisse wäre die Umsetzung ihrer Pläne gar nicht möglich gewesen.

„Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ fragte Bert Brecht und gab mit dieser Frage zugleich eine möglich Antwort. Auch bei sonstigen wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeiten drängt sich ja mitunter die Frage auf, wie moralisch ein solches Handeln letztlich ist. Der Handel beruht ja auch darauf, daß eine Ware möglichst günstig eingekauft und möglichst teuer verkauft wird. Letzteres hat natürlich Grenzen, denn wenn ich mal auf mich schaue, dann gibt es oft eine preisliche Grenze, ab der der Erwerb für mich schlicht unattraktiv wird.

Mich erinnert das an ein paar Zeilen aus einem Song von Melanie Safka: „As through the world I’v rambled / I’ve seen some funny men. / Some gonna rob you with a sixgun, / some gonna do it with a fountain-pen.“ (Etwas frei übersetzt: Ich habe in meinem Leben einige seltsame Menschen getroffen. Manche berauben dich mit einer Knarre in der Hand, andere brauchen nur einen Füllfederhalter.)

Im brechtschen Sinne also: wirtschaftliches Handeln als Beraubung. Sehr pointiert und entsprechen ungerecht. Aber wie Erich Kästner zu Verallgemeinerungen meinte: niemals richtig, immer wichtig.

Vor ein paar Tagen las ich im Internet eine Einschätzung über amerikanischen Milliardäre, die sich für Trumps Wiederwahl einsetzen. Die hätten doch wahrhaftig schon genug und würden nur wegen der angekündigten Steuererleichterungen auf die Karte Trump setzen. Sowohl in der Einschätzung des Autors als auch in meiner eine Schamlosigkeit.

Ich beneide solche Menschen ja nicht um ihren Reichtum (doch, doch!), aber mich irritiert die – in meinen Augen – fehlende Selbstreflexion. Sie finden ihren Reichtum, der meist nicht selbst erarbeitet, sondern ererbt wurde, völlig normal und – vor allem – auch verdient. Womit eigentlich?

Der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Lothar Späth, meinte sogar einmal, die Finanzbeamten sollten doch bei der Steuerprüfung von Unternehmen nicht ganz so genau hinschauen. Reichtum als Bürgerrecht? Aber natürlich nicht für alle!

Ähnlich dreist ist der Umgang mit den Empfängern von Bürgergeld. Die CDU will es sogar völlig abschaffen und durch die „Neue Grundsicherung“ ersetzen. Dahinter steht aber das immer wieder neu intonierte Lied von den überversorgten Empfängern von Bürgergeld. Um meine schon mehrfach geäußerte Meinung dazu zu wiederholen: diese Behauptung hält keinem Faktencheck stand. Der Paritätische Wohlfahrtsverband vertritt die Auffassung, das Bürgergeld müsse statt der aktuellen 563 € bei etwa 830 € liegen – eine Differenz von immerhin knapp 270 €, fast der Hälfte des aktuellen Satzes also.

Es ist nicht das erste Mal, daß sich die Wohlfahrtsverbände mit dieser Einschätzung zu Wort melden. Folgen für die praktische Politik hatte dies aber nicht; die Erkenntnisse werden von der Politik schamlos ignoriert.

Es ist für mich immer wieder schwer verständlich, warum offensichtliche Fakten ignoriert werden. Die FDP wirbt neben der „Technologieoffenheit“ mit den sog. E-Fuels für ein Weiterleben des Verbrennungsmotors. In der Wissenschafts-Show „Maithink X“ (Sendung 17.3.24) wurde sehr klar dargestellt, wie wenig energieeffizient diese E-Fuels sind. Elektro-Autos hatten einen Wirkungsgrad von 73 %, Autos mit E-Fuels dagegen einen von nur 20 %.

Gegen Meinungen kann man argumentieren, gegen Naturgesetze nicht. (Diskutieren Sie doch mal mit der Schwerkraft, wenn sie stolpern.) Dennoch beharrt die FDP auf diesem unsinnigen Standpunkt. Eine Beleidigung für jeden selbständig Denkenden, also schamlos.

Ich frage mich bei solchen Ereignissen immer, worauf die offenkundige Ignoranz dieser Menschen basiert. Ist es das altbekannte Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf? Oder der Unwille, die eigenen Anschauungen einer intensiven Überprüfung zu unterziehen und damit einzugestehen, daß die eigene Meinung faktenmäßig nicht mehr up-to-date war? Wir – also auch ich – verharren ja gerne bei einem einmal gewonnenen Erkenntnistand, und es kratzt schon ein wenig am Ego, sich bewußt zu machen, daß man von neuen Entwicklungen wenigsten teilweise überrollt worden ist.

Ich finde es aber schlimmer, auf alten Ideen zu beharren, als sich der Realität immer wieder von Neuem anzunähern. Anstrengender ist das, aber in den meisten Fällen auch deutlich effizienter.

Nehmen wir einmal das Beispiel der FCKW-Stoffe. Das Kürzel FCKW steht für Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe. Sie wurden vor ihrem Verbot als Treibmittel in Spraydosen und in Kühlschränken verwendet. Die Beliebtheit in der Verwendung beruhte auf ihrer chemischen Stabilität. Später zeigte sich aber, daß sie einen großen negativen Einfluß auf die Ozonschicht hatten, was dann auch zu einem Verbot ihrer Verwendung führte.

Vor einem ähnlichen Problem stehen wir heute mit den PFAS, die zu den sogenannten Ewigkeits-Chemikalien gehören. Diese Bezeichnung deutet schon auf das Problem hin, mit dem wir heute konfrontiert sind: sie sind kaum abbaubar und reichern sich damit in der Umwelt an. Sie sind wasser-, fett- und schmutzabweisend und darum so beliebt.

Ein ebenso gelagertes Problem stellt das Mikroplastik dar. Mikroplastik entsteht durch die mechanische Zersetzung von Kunststoffabfällen. Die bleiben uns wegen der Lebensdauer der Stoffe nicht nur lange erhalten, sie sind mittlerweile sogar in Lebensmitteln nachweisbar.

Diese Beispiele zeigen, daß der Vorteil dieser Substanzen eben seinen Preis hat, und den werden auch noch nachfolgende Generationen zu entrichten haben. Und das ist doch nun wirklich schamlos.