„Das glaube ich erst, wenn ich es sehe“ kann also ein sehr trügerischer Grundsatz sein. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Nicht alles, was wir sehen, entspricht der Wirklichkeit.
Der Rote Faden
Von Rolf Mackowiak
Sehen
Sehen ist nicht nur eine Frage des Augen-Blicks. Auf den ersten Blick (aber HALLO!) ist das doch augen-scheinlich. Aber sehen wir wirklich, was vorhanden ist, vor allem: alles? Das nun ganz gewiss nicht. Da ist erst einmal die physikalische bzw. physiologische Beschränkung unserer Augen. Ich sehe nur in einem bestimmten Spektralbereich. Viele Tiere haben ein deutlich besseres Sehvermögen als wir Menschen. Mit dieser Einschränkung kommen wir im Alltag aber ganz gut zurecht.
Was wir sehen hängt aber auch mit der Zeit zusammen, in der wir leben. Wer schon einmal altägyptische Wandmalereien gesehen hat, wird sich wie ich über die seltsame Darstellung menschlicher Figuren gewundert haben. Nun waren die alten Ägypter sicher nicht dümmer als wir Menschen der Neuzeit. Aber die perspektivische Darstellung war ihnen noch fremd.
Ich möchte auch daran erinnern, wie z. B. das Kino unsere Wahrnehmung verändert hat. Bei der ersten Aufführung eines Filmes, in denen ein Zug auf die Zuschauer zuraste, führte das zu panischen Reaktionen. Darüber kann ich heute vielleicht lachen, aber für damalige Betrachter war das bestimmt nicht so komisch.
Sehen hat also auch mit meinen Erwartungen an das Gesehene zu tun. Betrachten wir einmal einen Gegenstand, der sich auf einfache Weise konstruieren lässt, das Möbius-Band. Es entsteht dadurch, dass ein Papierstreifen mit um 180° verdrehten Enden zusammengeklebt wird. Der entstandene Streifen wirkt räumlich, doch wenn ich mit einem Stift den Streifen entlangfahre, treffen sich Anfang und Ende dieser Linie. Geometrisch gesehen hat dieser Streifen nur eine Seite. Das ist völlig unanschaulich, denn wenn ich mir ein Blatt Papier anschaue, kann ich mir nicht vorstellen, wie es aus nur einer Seite bestehen kann. Ich sehe das Möbius-Band, aber wirklich verstehen, was ich da vor mir habe, kann ich nicht.
Dieses Beispiel zeigt, wie vertrackt manche Aspekte des Sehens sind. Aber es geht auch viel einfacher. Wem ist es noch nie passiert, dass er z. B. seinen Haustürschlüssel, den er eben noch in der Hand hatte, mit steigender Verärgerung sucht, weil das verflixte Ding offenbar ein Meister der Tarnung ist. Noch ärgerlicher wird das, wenn ein Anwesender nur schulterzuckend auf den gesuchten Schlüssel zeigt und gar nicht verstehen kann, wie man den denn übersehen kann. Dinge können also vor unseren Augen sein, ohne dass wir sie deshalb zwangsläufig auch sehen oder besser: wahrnehmen. Unsere Augen filtern diesen Gegenstand ja nicht aus, das macht erst unser Gehirn.
Eine andere Form fehlerhafter Verarbeitung sind optische Täuschungen. M. C. Escher war ein Meister darin, solche Bilder zu konstruieren. Ich kann nur empfehlen, sie sich anzusehen. Es gibt sogar Versuche, einige dieser Gegenstände „nachzubauen“, und zwar als reale Objekte. Die Täuschung wirkt nur dann, wenn das Objekt unter einem bestimmten Winkel betrachtet wird. Ein Ball, der auf einer Mauerkrone aus Stufen ständig nach unten hüpft und dabei nie ein Ende findet, läuft z. B. bei meinem Computer als Bildschirmschoner und ist den Grafiken Eschers nachempfunden. Bei diesem Objekt wird dann auch gezeigt, wie es konstruiert ist und wie es zu dem Eindruck einer endlos nach unten laufenden Treppe kommt.
Eine ähnlich interessante Wahrnehmungsform stellen die sogenannten Stereogramme, auch Autostereogramme genannt, dar. Das sind Bilder, die auf den ersten Blick nur ein wirres Farb- und Formen-Gewusel darstellen. Man muss gewissermaßen durch das Bild hindurchschauen um einen merkwürdigen Effekt zu erreichen. Plötzlich wirken die Bilder räumlich und es ist ganz erstaunlich, wie komplex diese Bilder sein können. Auch bei den Stereogrammen weiß ich nicht, wie dieser Effekt erreicht wird, aber er hat unbestritten einen hohen ästhetischen Reiz. Das Bild zu diesem Hör-Clip ist übrigens ein Stereogramm.
Eine ganz andere Form der optischen Täuschung stellen sogenannte Kippfiguren dar. Es ergeben sich zwei unterschiedlich Bildmotive, je nachdem, wie man das Bild sieht. Ein bekanntes Motiv stellt entweder eine junge Frau mit Halsband dar oder eine alte mit verkniffenem Mund.
„Das glaube ich erst, wenn ich es sehe“ kann also ein sehr trügerischer Grundsatz sein. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Nicht alles, was wir sehen, entspricht der Wirklichkeit, auch wenn sie Wirk-lichkeit sind, also einen falschen Eindruck bei uns hinterlassen können. Eine Brille, die dagegen hilft, gibt es leider noch nicht…