Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Titel

Titel verleihen Würde. Im „Zauberer von Oz“ bekamen der Löwe Mut, die Vogelscheuche Verstand zugesprochen und waren in der Folge damit versehen. Das ist nicht immer ganz so einfach.

„Heiße Magister, heiße Doktor gar“, so stellt sich Goethes Faust dem geneigten Publikum vor. Obwohl er darin intensiv sein Ungenügen findet: „Da steh ich nun, ich armer Tor! /
Und bin so klug als wie zuvor“.

Auch Kant machte – sinngemäß – die Feststellung, daß wir uns wegen unseres Verstandes Fragen stellen, die wir allein mit ihm nicht beantworten können.

Also alles für die Katz‘? Das nun nicht gerade; beide stellen ja nicht den Sinn des forschenden Verstandes in Frage, Kant schon gar nicht („Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmün­digkeit.“)

Titel dienen dazu, dessen Träger gewissermaßen eine bestimmte Kompetenz zuzuschreiben oder sie ihm zu verleihen. Daher ja auch die Redewendung von der „Verleihung“ eines bestimmten Titels wie beispielsweise dem eines Nobelpreisträgers. Es ist also keine selbst angemaßte Bezeichnung, sondern eine durch Arbeit erworbene, egal in welcher Form.

Meist erfolgt diese Verleihung einer bestimmten Würde mit einem Dokument, sei es der Gesellenbrief, sei es der Doktortitel. In diesen Fällen ist der Titel eine Anerkennung, daß die Trägerin bestimmte Anforderungen erfüllt hat. (Für den männlichen Teil der Bevölkerung: Sie sind selbstverständlich ebenfalls gemeint. Und „männlich“ natürlich nach den Regeln der LGBTQ-Charta.)

Der begnadete Spötter Kurt Tucholsky stellte dazu fest, wem Gott ein Amt gebe, dem gebe er auch Verstand – von „viel“ sei aber nicht die Rede. Nun sind die meisten Verleiher solcher Titel in der Hierarchie doch deutlich unter der eben genannten Wesenheit angesiedelt, was die verliehene Kompetenz noch ein wenig weiter einschränkt. Doch nur ein Spiel mit geliehenem Glanz?

Da zieht der Spötter in mir sich die Narrenkappe vom Kopf und bekennt kleinlaut: So war das doch nicht gemeint. Gemeinhin kann ich mir solche kleinen Gemeinheiten aber nicht verkneifen, noch bin ich bereit, mich mit dem Mainstream gemein zu machen. Hinter diesem Wortgeklingel steckt die in meinem Leben erworbene (nicht verliehene!) Skepsis allen gegenüber, die sich selbst die Kompetenz zusprechen, sie anderen aber nur bei Unabweis­barkeit zugestehen.

Ich erinnere mich an die Aufforderung an Greta Thunberg, die Lösung der Fragen, die sie stellt, doch den Fachleuten zu überlassen. Da drängt sich mir die Frage auf, wer anders als diese Fachleute denn die von ihr benannten Probleme verursacht haben, ganz getreu der Regel „Wir haben die Sache verbockt, also kennen wir uns aus.“

Ähnlich unbedarft geht die Politik auch mit anderen Problemen um. Der Advocatus Diaboli in mir möchte sie aber auch ein wenig in Schutz nehmen. Wir stehen vor einem immensen Wissen, das beim besten Willen niemand mehr allein überschauen kann. Daher ist es kein Wunder, wenn sich Politiker der Expertise von Fachleuten bedienen, und das halte ich auch im Grunde für sehr sinnvoll. Nur sind diese Experten eben nicht nur das, sondern oft auch in andere Zusammenhänge eingebunden, die ihre Meinung beeinflussen. Es gibt den schönen Satz „Wer nur einen Hammer hat, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.“ Anders gesagt: Welche Problemlösung ich in Betracht ziehe, hängt auch von meinem eigenen Interesse ab, von der Art oder dem Umfang, in dem ich davon selbst betroffen bin.

Mir geht es beim Verfassen dieses und anderer Texte ähnlich. Sie sind neben meinem Wissen auch von meiner inneren Verfassung abhängig. Würde ich mich heute einem Thema widmen, über das ich schon einmal geschrieben habe, sähe der Text sicher anders aus, weil mir dazu andere Gedanken in den Sinn kommen als beim ersten Ansatz. Auf eine kurze Formel gebracht: Es gibt keine absolute Wahrheit, sondern nur situationsbedingte Wahrheiten. Ob die über meine Person hinaus Bestand haben, muß sich jeweils immer wieder erweisen.

Schon dieser Text ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich bestimmte An- und Absichten beim Schreiben verändern. Am Anfang hatte ich nämlich eine ganz andere Idee davon. Meine Gedanken entwickeln sich beim Schreiben und ich bin durchaus geneigt, abzuschweifen, weil mich ein Gedanke in eine andere Richtung weist. Vielleicht nicht der geringste Reiz, den das Schreiben für mich hat.

Das ist ja das Spannende am Denken: Nicht zu wissen, wo man ankommt, sich offen zu halten für andere Gedanken. Wer ein festes Weltbild hat, ist meines Erachtens nach zu bedauern. Eine Skizze reicht doch, sich zu orientieren und gerade die Wege ins geistige Unterholz fördern manchen Schatz zutage.