Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Vernunft und Verstand

Ich bin nämlich nicht nur ein denkender Mensch, sondern auch ein fühlender.

Ich hätte diesem Beitrag auch den Titel „Klugheit und Intelligenz“ geben können. Auf den ersten Blick sind diese beiden Begriffe gar nicht so weit voneinander entfernt – und doch haben sie eine sehr unterschiedliche Bedeutung.

Verstand bezieht sich auf unseren Intellekt. Wo also sehe ich einen Unterschied zur Vernunft? Vernunft ist für mich der übergeordnete Begriff. Er geht über das rein Rationale hinaus. Ich bin nämlich nicht nur ein denkender Mensch, sondern auch ein fühlender. Jeder kennt sicher die Redewendung, er habe eine Entscheidung „aus dem Bauch“ heraus getroffen, also nicht auf rein rationaler Basis.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut“ läßt Saint Exupery seinen kleinen Prinzen sagen. Dahinter steht der Gedanke, daß der Verstand eben nicht alles ist. Auch Immanuel Kant stellte fest, daß wir uns auf Grund unseres Verstandes Fragen stellen, die wir allein mit ihm nicht beantworten können.

Ich will mal ein Beispiel anführen, das wohl jeder kennt: sich in einen anderen Menschen zu verlieben. Das ist weitgehend irrational, aber ist es deshalb auch unvernünftig? (Das kleine Teufelchen in mir schreit da ein lautes „JA“.) Wenn ich beschreiben sollte, was denn diesen Menschen im Wortsinn des Liebens wert macht, hätte ich aber ein großes Problem. Gefühle zu beschreiben ist so, als wolle man eine Farbe erklären: Ich weiß, was es ist, kann es aber nicht mit Worten ausdrücken.

Ist diese Sprachlosigkeit nicht merkwürdig? Warum fehlen uns bei etwas so Elementarem die Worte?

Eine ähnliche Sprachlosigkeit findet sich ja bei der Bezeichnung dieser Beziehung. „Mein Freund“ bzw. „meine Freundin“ ist die wohl gängigste Formulierung. Nicht mehr? fragt da wieder das Teufelchen. Kein Sex, nur Händchenhalten? Und wo bleibt das Gefühl in diesem Wort? Auf der Strecke. Warum nicht mein Geliebter/meine Geliebte? Das wäre doch ein klares Statement.

Erst am Wochenende bin ich wieder auf ein schlagendes Beispiel für das Auseinanderklaffen von Vernunft und Verstand gestoßen, und zwar bei der von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten „Friedens-Demo“. Beiden Frauen kann man ja Intelligenz nicht absprechen, aber die doch etwas verquere Sichtweise auf den Ukraine-Krieg bleibt mir ein Rätsel. Da wird die anfängliche Aggression (die ja schon mit der Besetzung der Krim begann und damit über 8 Jahre zurückliegt) durchaus gesehen, nicht aber eine Verantwortlichkeit für diesen Krieg. Und welche Verhandlungen sollen stattfinden, wenn Putin auf seinen Kriegs­zielen besteht, wie erst neulich wieder betont? Nach meinem Verständnis soll eine Ver­handlung ja einen Ausgleich der Interessen mit sich bringen. Aber unterschiedlicher könnten die Interessen im Fall von Rußland und der Ukraine wohl kaum sein.

Ein anderes Beispiel ist unser Verkehrsminister Wissing. Seine Ablehnung vom Ende des Verbrennungs-Motors – obwohl dem in der EU bereits zugestimmt wurde – ist weder rational noch sonstwie nachzuvollziehen und speist sich wohl einzig aus dem Drang der FDP heraus, Eigenständigkeit zu demonstrieren. Sehr erwachsen wirkt das auf mich nicht.

Apropos nicht erwachsen: Was war das denn für eine verquere Reaktion? Die Einladung von Frau Stark-Watzinger zu einem „Bildungsgipfel“, die viele Bildungsminister der Länder ausschlugen, weil sie formell nicht für die Bildung zuständig ist, erinnert an einen Kinder­garten. Aber das Geld aus Berlin wäre natürlich willkommen…

 Was macht also dieses Mehr oder Andere an der Vernunft aus? Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Ich weiß nur, daß eine reine Rationalität im Kern inhuman wäre. Läßt sich Kunst rational analysieren? Es gibt bestimmt rationale Kriterien, die bei ihrer Bewertung eine Rolle spielen, aber sie sind nur eine Basis, auf der ein ästhetisches Urteil aufbaut.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie im Deutschunterricht Texte zerlegt und grammatisch analysiert werden sollten. Das erinnert mich heute an die Autopsien in vielen Krimis: Die Zerlegten sind tot, und so tot sind auch die Texte, die so behandelt werden. Nichts an einem Gedicht läßt sich über die Grammatik erklären.

Für die Musik gilt das in noch stärkerem Maße. Ich denke da vor allem an ein Gedicht von Pablo Neruda, dem ersten aus seinem Canto General, dem „Großen Gesang“. Die ersten sieben davon wurden von Mikis Theodorakis vertont, gesungen unter anderem von der wundervollen Maria Farantouri. Wenn sie die erste Zeile intoniert, kommen mir regelmäßig die Tränen, weil die Verbindung von Text, Komposition und Stimme eine so große emotionale Wucht hat. Was berührt mich da? Ich kann es nicht einmal ansatzweise erklären, nur die Wirkung benennen. Das ist jenseit aller Rationalität und gerade deshalb so schön.