In meinen Augen ist Zweifel der erste Schritt zur Erkenntnis.
Der Rote Faden
Von Rolf Mackowiak
Zweifel
Der Zweifel hat – wie auch anders? – einen zweifelhaften Ruf. Zu Unrecht, wie ich finde. In meinen Augen ist Zweifel der erste Schritt zur Erkenntnis. Wie viele Dinge schienen im Laufe der Zeit gesicherte Erkenntnis, bis man sich des Irrtums bewußt wurde: die Erde ist keine Scheibe, sie ist nicht Mittelpunkt des Universums usw.
Gerade in Glaubens-Fragen ist der Zweifel nicht besonders beliebt. Fest im Glauben und schwach im Verstand ist dann die Devise. Dabei steckt die Welt voller Dinge, die wirklich fast unglaublich sind. Wenn man sich die Vielfalt des Lebens anschaut und welche Variationsbreite sich darin findet, ist das schon atemberaubend – sofern man nicht das Staunen verlernt hat. Nehmen wir doch nur mal etwas so Unscheinbares wie ein Gänseblümchen. Es macht nicht viel her, aber unser ganzes Wissen reichte nicht aus, es quasi „nachzubauen“. Oder wie Peter Rühmkorf es in einem seiner Gedichte sagte: ein paar Grashalme von ihrer Hand – gar nicht so ungewaltig.
Zweifel negiert ja nicht, er fragt nur nach der Natur der Dinge: Ist es so, wie es mir erscheint oder gibt es noch eine andere Erklärung? Es ist ja so selbstverständlich, daß die Dinge nach unten fallen. Aber warum? Natürlich wegen der Schwerkraft. Aber können Sie mir erklären, was das ist und was da wirkt? Ich ebensowenig. Zweifelsfrei ist nur, daß sie existiert.
Unser Wissen reicht nur bis zu unserem nächsten Irrtum – oder besser gesagt: bis wir uns dieses Irrtums bewußt werden. Wenn man sich auf der Basis unseres heutigen Wissens die Geschichte der Naturwissenschaften anschaut, kann man dies oft nur mit einiger Belustigung tun: Wie konnte man denn einen solchen Unfug als Wissen akzeptieren? Weil es keine begründete Alternative gab. Vielleicht sehen kommende Generationen auf uns mit derselben Belustigung herab.
Was wir als Wissen betrachten, also als sichere Erkenntnis, ist wissenschaftlich gesehen nur eine Hypothese: „Hypothese im wissenschaftlichen Sinn ist eine auf dem Stand der Wissenschaft gründende Annahme, die zwar geeignet ist, bestimmte Erscheinungen zu erklären, deren Gültigkeit aber nicht oder noch nicht bewiesen bzw. verifiziert ist.“ So erklärt es die Wikipedia.
Mit anderen Worten: Unser Wissen ist in weiten Bereichen nur ein vorläufiges. Jede neue Erkenntnis kann eine scheinbar sichere Wahrheit zu einem Irrtum werden lassen. Ein wenig boshaft könnte man sagen: Nur der Zweifel ist beständig, die Wahrheit eher trügerisch.
Mir fällt dazu ein Satz von Dostojewski ein: Ich gebe zu, 2 mal 2 macht 4 klingt nicht schlecht. Aber wo wir schon beim Rühmen sind: 2 mal 2 macht 3 klingt auch nicht übel.
Schauen wir uns dazu einmal etwas so Vertrautes wie das Licht an. Ist es ein Teilchen oder eine Welle? Beides schließt sich – eigentlich – aus. Aber tatsächlich verhält es sich, je nach Versuchsanordnung, mal wie ein Teilchenstrom, mal wie eine Welle. Salopp gesagt: Stellt man eine Teilchen-Frage, dann bekommt man auch eine Teilchen-Antwort. Dasselbe gilt aber auch für eine Versuchsanordnung, die den Wellencharakter des Lichts im Fokus hat. Da gibt es kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-auch: 2 mal 2 macht 3 klingt auch nicht übel.
Damit können wir im Alltag nicht viel anfangen: Eine Gabel ist eine Gabel, und der Versuch, sie wie einen Löffel zu verwenden, würde nur einen leeren Magen ergeben – oder sehr viel Ausdauer erfordern.
Aber abgesehen von der Wissenschaft ist auch im Alltag der Zweifel oft nicht abzuweisen. Führt ein stärkerer Ausbau des Straßennetzes zu flüssigerem Verkehr oder lockt er noch mehr Verkehr auf die Straße und verfestigt die Verhältnisse? Auch da ist 2 mal 2 eben ganz häufig 3, nicht 4.
Ich weiß nicht mehr, von wem folgender Satz stammt, aber er schlägt in dieselbe Kerbe: Es gibt keine absoluten Wahrheiten, und wenn es sie gäbe, wären sie höchst langweilig.
Noch komplizierter ist die ganze Sache, wenn Menschen betroffen sind. Da gibt es keine allgemeingültige Wahrheit, sondern eine riesige Zahl von persönlichen Wahrheiten. Nehmen wir mal den Fußball. In den vergangenen Jahren schien es – nun, nicht gerade ein Naturgesetz, aber doch eine unabweisbare Tatsache, daß Bayern München Deutscher Meister wird. Für viele Fans ist etwas Anderes schon überhaupt nicht mehr vorstellbar.
Ähnlich verhielt es sich mit den Kanzlerschaften von Helmut Kohl und Angela Merkel, die dieses Amt beide 16 Jahre ausübten. Jetzt erklären sie mal einem Jugendlichen, der in dieser Zeit geboren wurde, es könne noch andere Inhaber dieses Amtes geben…
An Olaf Scholz kann man sich in der Hinsicht hervorragend abarbeiten. „Zögern und Zaudern“ scheint das Motto seiner Kanzlerschaft zu sein. Der selbstgestellte Anspruch „Wer bei mir Führung bestellt, muß wissen, daß er sie dann auch bekommt", so seine Ankündigung 2013.
Da kommen sicher nicht nur mir Zweifel.