Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Zahlen

Die aktuelle Inflationsrate liegt bei etwa 8 %. Allerdings ist das ein gemittelter Wert. Betrachtet man die Preissteigerungen bei Lebensmitteln, so liegt diese Rate bei über 22 %. Es kommt also oft darauf an, wie genau die Fragestellung ist, die durch eine Zahl beantwortet werden soll.

Zahlen sind uns völlig selbstverständlich, selbst manche Tierarten scheinen über ein Konzept von Zahlen oder der Menge von Gegenständen zu haben.

Zahlen existieren in verschiedener Notation und können eine unterschiedliche Basis haben. Das uns vertrauteste System ist das Dezimalsystem, also ein System auf der Basis 10. In der EDV war lange das Oktalsystem verbreitet, also eines auf der Basis 8, später auch ein Vielfaches davon. So basieren Computer heute oft auf 64-Bit-Prozessoren.

Gerade bei Computern wird es oft ein wenig haarig, denn seine Logik beruht ja auf dem dualen System, das nur die Werte 0 und 1 kennt. Die Darstellung eines Dezimalbruchs, also einer „Komma-Zahl“ als Dualzahl ist aber nicht immer genau möglich und dadurch entstehen Rundungsfehler. Die müssen ausgeglichen werden, damit 1 durch 3 mal 3 wirklich wieder 1 ergibt. Was uns Kopfrechenkünstlern ganz schnell gelingt, ist für den Computer alles andere als trivial.

Zahlen begegnen uns in vielfältige Weise, oft als Preise oder Mengenangaben von Waren usw. Eine Unterscheidung ist die zwischen Ordinal- und Kardinalzahlen. Ordinalzahlen kenn­zeich­nen eine Rang- bzw. Reihenfolge: der 1. April ist also der erste Tag im April. Kardinalzahlen bezeichnen eine Menge: der April hat 30 Tage.

Damit läßt sich schon eine Menge anfangen, und viel mehr Mathematik brauchen wir im Alltag normalerweise nicht: die Grundrechenarten, vielleicht noch den Dreisatz.

Erinnert sich noch jemand an Rechenschieber oder Logarithmen-Tafeln? Bei letzteren mußte man oftmals Werte interpolieren, also aus zwei Werten einen dritten ermitteln, der eine weitere Dezimalstelle der Zahlenfolge hinzufügte. Damit verbunden war aber eine zu­nehmende Ungenauigkeit, weil es eben keine exakte Berechnung, sondern nur eine Interpolation war.

Heute spuckt ein Taschenrechner solche Werte mit 10stelliger Genauigkeit aus. Das reicht für den Hausgebrauch auch völlig aus. Eine 1 mit 9 folgenden Nullen stellt schon eine Milliarde dar, und mit solchen Größen haben wir im Alltag eher selten zu tun; sie begegnen uns hauptsächlich in den Nachrichten.

Aber es gibt auch Zahlen, bei denen es wichtig ist, in welchem Kontext sie auftreten. Die aktuelle Inflationsrate liegt bei etwa 8 %. Allerdings ist das ein gemittelter Wert. Betrachtet man die Preissteigerungen bei Lebensmitteln, so liegt diese Rate bei über 22 %. Es kommt also oft darauf an, wie genau die Fragestellung ist, die durch eine Zahl beantwortet werden soll.

Nehmen wir einmal die anstehende Rentenerhöhung. Sie soll in Westdeutschland 4,39 % betragen, im Osten 5,86 %. Welchen Wert repräsentiert die letzte Nachkommastelle? Ich gehe dabei mal vom Durchschnitt der Altersrenten aus, der für Männer bei knapp 1200 € liegt, für Frauen bei etwa 770 €. Dann entspricht die Ziffer „9“ etwa einem Cent bzw. 0,7 Cent. Eine weitere Nachkommastelle bei dem prozentualen Anstieg hätte damit gar keine praktische Bedeutung.

Ein weiteres schönes Beispiel ist die Zahl Pi. In den meisten Fällen genügt eine 6stellige Genauigkeit: 3,14159. Jeder Taschenrechner, der diese Funktion bietet, ist deutlich genauer. Wenden wir das einmal auf die Erde an – auch wenn ich dabei ein wenig schummeln muß: Sie ist schließlich keine exakte Kugel. Aber als Rechenbeispiel genügt diese Näherung. Der Durchmesser der Erde liegt bei etwa 12.742 km, woraus sich dann ein Umfang von 40.030,14 km ergibt. Nehme ich die genauere Darstellung des Taschenrechners, dann komme ich auf 40.030,174 km, d. h.  der Unterschied beträgt etwa 34 m, was bei der Größenordnung und der Unregelmäßigkeit der Erdform bedeutungslos ist.

Zahlen haben auch etwas Verführerisches: in den meisten Fällen vermitteln sie Eindeutig­keit, Das liegt daran, daß sie einen schnellen Vergleich möglich machen, wenn sie als Maßzahl verwendet werden. Das hängt auch davon ab, wer diesen Vergleich macht. Jeder kennt wohl das Beispiel der Verbrauchswerte eines Autos. Dabei ist die Herstellerangabe meist mit großer Vorsicht zu genießen, da die Testbedingungen mit dem alltäglichen Betrieb kaum überein­stimmen, und auch der eigene Fahrstil ist da nicht ohne Einfluß.

Haben Sie sich auch schon einmal über Preise geärgert, die auf die Ziffern „9-9“ enden? Diese sogenannten Schwellenpreise sollen dem Käufer suggerieren, der Preis sei so knapp wie möglich kalkuliert worden. Allein der Aufwand bei der Her- und Bereitstellung der dafür benötigten Münzen läßt sich jedenfalls wirtschaftlich nicht begründen. Ich finde, das beschert uns eine Menge überflüs­sigen Kleingelds und nur eine minimale Ersparnis. Ich hatte gehofft, ein Seiteneffekt der Einführung des Euro könnte das Ende dieser Preise sein, aber da habe ich mich gründlich getäuscht. Eine wirklich gute Begründung für solche Preise habe ich noch nicht gefunden.

Neben den Dingen, die sich in irgendeiner Form mit Zahlen in Verbindung bringen lassen, gibt es solche, die sich dem entziehen, weil sie nicht quantifizierbar sind. Die Schönheit eines Bildes oder einer Melodie ist nicht in Zahlen abzubilden. Dabei sind vor allem in der Musik gewisse Zahlenverhältnisse nicht unwichtig, z. B. der ¾-Takt und Ähnliches. Aber da begebe ich mich auf ein Terrain, auf dem ich nicht trittfest bin.

Zu den erstaunlichsten Dingen, die die Natur zu bieten hat, gehört der Umstand, daß sich in ihr genaue Zahlenverhältnisse finden, etwa der Goldene Schnitt. Dabei sollte man mit solchen Analogien vorsichtig sein. Eine Pflanze wächst nicht so, weil es ein bestimmtes Muster gibt, sondern ihre Eigenschaften lassen sich mit diesem Muster beschreiben – wenn auch nicht erklären.

Ähnliches gilt auch in der Wirtschaftswissenschaft. Sie ist ja ohne Rechenmodelle kaum denkbar und es gibt eine Unmenge von mathematischen Modellen, mit denen sich wirtschaft­liche Prozesse zumindest beschreiben lassen. Auch da ist Vorsicht geboten: Nur weil sich mathe­matische Formeln zur Beschreibung eignen, wird die Wirtschaftswissenschaft nicht zu einer exakten Naturwissenschaft. Da kann die Genauigkeit der Modelle oft blenden und wenn man sich die Ergebnisse bzw. den Vergleich mit der Realität anschaut, bleibt zumindest bei mir die Frage, ob der Aufwand denn auch lohnt.

Zahlen können damit der Beschreibung dienen, weniger der Erklärung.