Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Zeit

Was vergeht, wenn Zeit vergeht?

Zeit ist ein Phänomen, das wenig greifbar ist. Wir können die Zeit messen, und die aktuelle Uhrzeit springt uns aus allen möglichen Quellen entgegen. Aber was messen wir mit Uhren wirklich? Im Grunde nur, daß ein Oszillator eine bestimmte Anzahl von Zyklen durchläuft. In modernen Uhren oder Computern sind dies Quarzkristalle. Aber gemessen wird eben nur die Anzahl der Schwingungen. Ob die Zeit, in der diese Schwingungen stattfinden, wirklich gleichförmig ist, können wir daran nicht erkennen. Wenn die Zeit ihrerseits in einem schwingenden oder sonstwie veränderlichen Zustand ist, bleibt das für uns außerhalb der Wahrnehmung, weil wir ja diese Veränderungen mitmachen. Wir teilen also dasselbe Bezugs­system

Für die klassische Physik war die Zeit linear und keinerlei Veränderungen unterworfen. Heute wissen wir ein wenig mehr darüber. Zeit und Raum bilden gewissermaßen einen Verbund, der nicht unabhängig voneinander existiert. Eine gleichförmige Zeit gibt es nur in demselben gemeinsamen Bezugssystem, d. h. es gibt keine allen gemeinsame Zeit, die universell gilt.

 Auf der Erde sind die erreichbaren Geschwindigkeiten zu gering, um da einen veränderten Zeitablauf zu bemerken. Aber wenn wir einmal die Größe des Universums in Betracht ziehen, sieht die Sache schon etwas anders aus. Wenn wir in den Sternenhimmel schauen, werfen wir gewissermaßen einen Blick in die Vergangenheit. Das Licht der Sonne braucht über 8 Minuten, bis es auf der Erde eintrifft. Der nächste Fixstern, Proxima Centauri, ist von uns über 4 Lichtjahre entfernt. So astronomisch kurz diese Distanz auch ist, so unvorstellbar groß ist sie dennoch, wenn man an sie unsere irdischen Maßstäbe anlegt.

Ein ganz anderer Zeitbegriff begegnet uns tagtäglich. Wir erleben die unterschiedlichen Ereignisse nicht als gleichmäßig über den Tag verteilt, sondern es gibt Phasen, in denen sie schneller zu vergehen scheint und solche, in denen sie sich dehnt – zumindest in unserer Wahrnehmung. Natürlich hat es keinen Einfluß auf den Ablauf der Zeit, ob wir uns in einem interessanten Gespräch mit Freunden befinden oder immer mal wieder zur Uhr schauen, ob denn nicht bald Feierabend ist. Wir arbeiten also ganz selbstverständlich mit zwei Zeitbe­griffen, was uns oft gar nicht so bewußt ist.

Was wäre ein Nachdenken über die Zeit ohne „Die gute alte Zeit“ – wann immer die gewesen sein mag. Denn in vielen Mythologien, manchmal auch in Religionen taucht sie auf, oft in verklärenden Tonfall. Sei es das Goldene Zeitalter, dem das nur silberne folgte oder die goldenen 20er, die ja nicht für alle diesen Schimmer hatten. In all diesen Überlieferungen gibt es nur eine Richtung: die in den Abgrund. Früher…

Aber möchte heute wirklich wieder jemand eine Operation ohne Narkose erleben? Oder die Elends­quartiere, die in Folge der Industrialisierung entstanden? Oder… Da gäbe es noch viele Beispiele, die es aber nicht aufzuzählen lohnt. Einmal abgesehen davon, daß der Lauf der Zeit sich nicht beeinflussen oder gar umkehren läßt. (Obwohl ich bei manchen Ereignissen durchaus das Gefühl habe, daß es das doch schon mal gab.)

Unsere Wahrnehmung der Zeit (und nicht nur von ihr) arbeitet nämlich sehr selektiv. Da gibt es in der Erinnerung monatelange Sommerwochen und meterweise Schnee – die tatsächlich aber meteorologische Ausnahmeerscheinungen sind und wenn sie denn tatsächlich auftreten, auch nicht sonderlich willkommen sind mit Trockenheit und Sonnenbrand oder mit Schnee­schippen und dem Freikratzen der Auto­scheiben.

Ein Satz, der gleichzeitig falsch und richtig ist (Ich liebe Paradoxien!) lautet: Ich habe jetzt keine Zeit. Zeit ist für uns keine Verfügungsmasse, kann also in keiner Weise manipuliert werden. Aber für unsere persönliche Zeit gilt das nicht. Da können wir – in Maßen – frei einteilen, was wir in und mit ihr machen. Es gibt ja leider kein Zeit-Sparbuch, auf das wir mal ein paar Stunden einzahlen und dann bei Bedarf wieder abheben können. „Eins, zwei, drei im Sauseschritt eilt die Zeit –  wir eilen mit“ schrieb Wilhelm Busch dazu.

Aber ist dieses so einleuchtende Beispiel auch richtig? Was vergeht, wenn Zeit vergeht? Wir können den Ablauf der Zeit nur dadurch erahnen, daß alles – uns eingeschlossen – Verän­derungen unterworfen ist. Ein einfaches Beispiel: Wenn wir auf etwas warten, scheint diese Zeit, wenn schon nicht endlos, so doch ausgesprochen lang zu sein, weil sich in ihr nichts ereignet, also verändert. Eben dieses Fehlen von Veränderungen ruft bei uns den Eindruck hervor, die Zeit schreite nicht voran oder stehe gar still – obwohl uns jeder Blick auf die Uhr eines anderen belehrt.

Es wimmelt nur so von Büchern mit Vorschlägen, wie wir Zeit sparen können. Können wir natürlich nicht, wir können unser Handeln nur so optimieren, daß wir in einem bestimmten Zeitraum mehr an Veränderungen unterbringen können. Aber was machen wir eigentlich mit dieser angeblich gesparten Zeit?

Wenn keine äußeren Reize an uns herantreten, begegnet uns nicht selten die lange Weile als Langeweile. Auf der anderen Seite kann es sehr genußvoll sein, sich die Zeit zu nehmen, ein gut zubereitetes Essen oder einen interessanten Film zu genießen. Da setzt – zum Glück – unser Effizienzstreben aus. Nicht umsonst hat ja Fast Food nicht den besten Ruf, wenn da auch die Frage der kulinarischen Qualität sicher eine Rolle spielt.

Ich persönlich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen die Zeit zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit einem Coffee to go und vielleicht noch einem belegten Brötchen füllen. Ist das nicht die wirkliche Zeitverschwendung? Eine Sache zu tun, ohne ihr die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken? Mir jedenfalls macht es Spaß, mein Frühstück oder Abendbrot vorzubereiten, alles wegzuräumen und dann einfach nur – zu essen. (Den Abwasch lasse ich dabei mal außen vor.)