Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Zeitenwende

Ich denke, wir stehen wieder vor einer Situation, bei der einfache Antworten sehr gefährlich sind.

Meine Gedanken verwenden gewisse Begriffe gern als Kondensationskeim, um sich daran anzulagern. Ein Wort, das mir in den vergangenen Tagen immer wieder begegnete, war das der „Zeitenwende“. Ich finde, es klingt in dem verwendeten Zusammenhang, nämlich der veränderten Haltung gegenüber Rußland wegen der Invasion in der Ukraine und der damit verbundenen Implikationen (Energieversorgung, Orientierung der NATO usw.), ein wenig monumental und man wird abwarten müssen, wie weit es in der Hinsicht wirklich trägt.

Aber es hat ja schon immer die Tendenz gegeben, bestimmte Zeiträume zu einer „Epoche“ zu adeln und damit eine tiefgreifende Veränderung anzudeuten. Die Industrialisierung ist ein Beispiel dafür, und es hängt ja auch eine Menge damit zusammen: Die Mechanisierung der Arbeit und damit ihrer Entwertung, aber auch die Selbstorganisation der Arbeiterschaft in Gewerkschaften usw.

Solche Zeiträume sind nur selten fest umrissen, aber als grober Anhalt ist eine solche Benennung doch ganz brauchbar. Aber was macht eine solche Zeitenwende aus? Ein harter Bruch mit der Vergangenheit ist damit selten Verbunden, es ist oft ein gleitender Über­gang.

Gern wird beispielsweise die Gründung der Bundesrepublik und der Verabschiedung des Grundgesetzes als ein Neuanfang gesehen. Übersehen werden dabei gern die Kontinuitäten, denn schließlich ändert sich das Verhalten der Menschen nicht grundsätzlich. Es paß sich nur an die neuen Verhältnisse an.

Lange Zeit wurden die 70er Jahre als so eine Zeit des Umbruchs betrachtet und Willy Brandts Wort vom „mehr Demokratie wagen“ läßt leicht vergessen, daß es auch die Zeit des Radika­lenerlasses und der damit verbundenen Gesinnungsschnüffelei war. Es gibt ja dieses ver­dächtige Wort des „Narrativs“, also gewissermaßen einer Erzählung über etwas. „Erzähl doch nichts“ ist die oft gebrauchte Wendung, wenn dem Gesagten eine gehörige Skepsis entgegen­gebracht wird.

Aber jetzt: „der Russe“ steht wieder vor der Tür, und irgendwie erinnert mich das an die Wahlplakate der CDU in den 60ern, laut denen alle Wege (natürlich die der Sozialdemokraten) nach Moskau führten. Kein Vertun: der völkerechtswidrige Überfall Putins (denn es ist sein Krieg, nicht der der russischen Bevölkerung) auf die Ukraine ist eine Zäsur. Krieg ist wieder Mittel der Politik geworden.

Moment mal: Was war in Jugoslawien, Afghanistan, im Irak? Ein Sonntagsausflug der beteiligten Armeen? Nein, aber es durfte einfach nicht Krieg heißen, auch wenn die deutsche Freiheit mal am Hindukusch verteidigt wurde. Gut, hier in Deutschland durfte es nicht Krieg heißen, die Amerikaner waren da ehrlicher. Lange Zeit war der Einsatz deutscher Soldaten kein Kampfeinsatz, sondern quasi eine humanitäre Akion. Ob es die Toten freut, nicht in einem Krieg ihr Leben gelassen zu haben? Und der Umgang mit den afghanischen Helfern nach dem Abzug der deutschen Soldaten kann einem nur die Röte ins Gesicht treiben – wahlweise vor Zorn oder aus Scham.

Hat sich also im Grunde nichts verändert? Der Imperativ der wirtschaftlichen Interessen wirkt nicht mehr so zwingend und es werden auch die Implikationen des eigenen Verhaltens wenig­stens zaghaft eingestanden. Chinas Politik in Tibet oder im Fall der Uiguren, die Annexion der Krim sind ja keine wirklichen Überraschungen gewesen. Nur leichte Stol­persteine, über die man im Interesse der Wirtschaft hinweghüpfen mußte. Zu einer wirklichen Korrektur hatte das nämlich nicht geführt.

Wenn man sich vor Augen führt, wie in Rußland und China, aber auch in Polen (die Liste ließe sich leider beliebig verlängern) mit Menschen umgegangen wird, die dem gängigen Narrativ eben nicht folgen, dann stelle ich mir schon die Frage, warum lange dieser scheinbar bequemere Weg eingeschlagen wurde. Ehrlich war das nicht, und zwar vor allem den eigenen Ansprüchen und Anschauungen gegenüber.

Ich komme da noch mal auf die Zeit der Radikalenerlasse zurück. Da wurde immer die „freiheitlichste Verfassung, die es je …“ beschworen. Beschworen allerdings wie einen Flaschengeist, den man gern wieder bannen wollte. Denn angesichts der deutschen Geschich­te, vor allem des Dritten Reiches, war das ja nun wirklich kein so großes Kunststück.

Lange Zeit waren solche Gräuel „in deutschem Namen“ vollbracht worden. Waren es nicht auch deutsche Soldaten und andere Deutsche? Auch gern verwendet wurde der Begriff der „Machtergreifung“. Nur,  diese Macht gewann Hitler durch demokratische Wahlen und der Widerstand, in Sonderheit der parlamentarische, war gering.

Also Vorsicht vor zu einfachen Antworten.

Ich denke, wir stehen wieder vor einer Situation, bei der einfache Antworten sehr gefährlich sind. Wie lange hat Olaf Scholz herumgeeiert, bis ihm das Wort „NorthStream“ über die Lippen kam? Ein rein wirtschaftliches Projekt sei das und habe beim Umgang mit Rußland nur eine untergeordnete Rolle.

Es mutet geradezu absurd an, wenn jetzt Maßnahmen getroffen werden, die vor noch gar nicht so langer Zeit als utopisch galten. Ein Ticket für den ÖPNV für 9 €, wenn auch nur für ein Vierteljahr. Und wer genau da einen Anspruch hat, muß sich auch noch im Detail zeigen. Aber mal ehrlich – wer hätte so etwas noch vor einem Vierteljahr für möglich gehalten? Wahrscheinlich wache ich gleich auf und alles war nur ein Traum.

Aber blicken wir auf die Geschichte mal in einem etwas größeren Rahmen. Das kann nämlch ganz schön bescheiden machen. Nehmen wir einmal eine der frühen Hochkulturen in Ägypten. Da fallen sicher nicht nur mir ganz schnell die Pyramiden ein. Aber monumental war ja nicht nur deren Erbauung, sondern auch der Zeitraum, in dem das Ägyptische Reich bestand. Allein der zeitliche Sprung, den man da geistig vollführen muß, ist enorm: Vor etwa 4500 Jahren entstand die erste Hochkultur dort mit den bekannten Pyramiden. Es war keine konti­nuierliche Geschichte, aber sie reichte immerhin bis etwa 1070 v. Chr, umfaßte also etwa 1 ½ Jahrtausende. Das Römische Reich umspannte einen ähnlichen Zeitraum. Dagegen sind die USA mit einer knapp 240jährigen Geschichte gerade der Kindheit entwachsen und auch das britische Empire wirkt nicht mehr gar so beeindruckend. Keinesfalls vergessen sollte man dabei auch, daß die Briten in Indien auf ein Land mit einer reichen Geschichte trafen. Mohenjo-Daro am Flußlauf des Indus ist eine der ältesten städtischen Siedlungen der Menschheitsgeschichte und hatte immerhin eine Besiedlungsdauer von 800 Jahren – gut 4 Jahrtausende vor der Gegenwart.