Der Rote Faden

Von Rolf Mackowiak

Zufall

Wir lieben also Überraschungen, wenn sie nicht ganz unerwartet kommen. Aber dieser tückische Zufall…

„So ein Zufall!“ Der Ausruf entfährt uns unwillkürlich, wenn wir nach langer Zeit einen Menschen wiedertreffen, den wir aus den Augen verloren haben und der uns gerade über den Weg läuft. Aber was ist Zufall eigentlich?

Ich nehme als Beispiel mal die Ziehung der Lottozahlen. Die ist nun wirklich zufällig und das wird auch streng kontrolliert. Aber würden die Zahlen 1 bis 6 gezogen, womöglich auch noch in der richtigen Reihenfolge nacheinander, fiele es den meisten wohl schwer, an einen Zufall zu glauben. Dabei ist diese Folge mathematisch genauso zufällig wie jede andere. Der Unterschied liegt in mir als Betrachter: Ich entdecke ein Muster in den Zahlen, das in ihnen selbst gar nicht vorhanden ist. Da füge ich dieser Zahlenreihe gewissermaßen meine Meinung hinzu.

Ähnlich verhält es sich mit Schneeflocken. Sie sind sehr symmetrisch aufgebaut und allein diese Symmetrie erscheint uns alles andere als zufällig. Dabei soll es keine zwei Schneeflocken geben, die identisch aussehen – eine unüberschaubare Fülle an Formen.

Aber ich neige wie andere Menschen dazu, in Ereignissen ein Muster zu erkennen. Wenn eine schwarze Katze meinen Weg kreuzt und ich mir, weil ich in Eile bin, die Zehen an einer Treppenstufe stoße, kommt vielleicht bei mir der Verdacht auf, beides könne irgendwie zusammenhängen. Das ist natürlich Blödsinn, aber es kommt meiner Neigung nach, in den erlebten Ereignissen nach einer Verbindung zu suchen, einem Sinn. Es gibt ja manchmal auch frappierende Erlebnisse, die in keiner Weise miteinander zusammenhängen, schon gar nicht ursächlich, deren Gleichzeitigkeit im Auftreten bei mir aber den Eindruck hinterlassen, da stecke doch irgendwas dahinter.

Ähnliche Verhältnisse herrschen ja beispielsweise in der Kernphysik. Es läßt sich zwar statistisch erfassen, wieviele Atome in einem bestimmten Zeitraum radioaktiv zerfallen, aber eine individuelle Aussage für ein bestimmtes Atom ist eben nicht möglich. Ich kann natürlich ketzerisch fragen, woher denn dieses eine Atom „weiß“, das es zerfallen muß, damit die Statistik stimmt. Aber das ist eine sinnfreie Frage.

Aus dem Chemie-Unterricht kenne ich noch diese Bilder von den Atom-Orbitalen, die ja, wenn ich es richtig verstanden habe, nicht wirkliche Substanz sind, sondern Wahrscheinlichkeits-Räume. Erst über die Zeit gemittelt ergibt sich ihre Form, die aber anders als meist in den Abbildungen keine scharfe Grenze hat.

Es ist ja das Faszinierende, wie sich im Kern deterministische Prozesse in scheinbar chaotische verwandeln, weil ihre Komplexität ansteigt. Was wir als zufällig wahrnehmen ist also oft nur der Unübersichtlichkeit geschuldet und den Grenzen unserer Wahrnehmung. Ich denke dabei an die nette Geschichte, der Flügelschlag eines Schmetterlings am Amazonas könne, wie neulich in Stolberg, irgendwo einen Tornado erzeugen. Würde das im strikten Sinne zutreffen, dann wäre die Erde wohl in kürzester Zeit unbewohnbar.

Ich denke dabei auch an Lehrfilme, in denen Brücken durch den Wind zuerst ins Schwingen und zum Schluß zum Zusammenbruch kommen. Das ist fern unserer Alltagserfahrung, aber eben auch nicht unerklärlich: Die Brücke gerät in Resonanz mit dem Wind – der nicht einmal besonders stark sein muß – und dies führt dann zu sich aufschaukelnden Schwingungen der Brücke und eben dem Zusammenbruch. Der Wind hat normalerweise keinen Einfluß auf die Brücke, aber wenn bestimmte Parameter wie Richtung und Stärke passen, wirkt er zerstörerisch

Früher war ich oft in Kneipen, und ein wichtiger Zeitvertreib dort sind Würfelspiele. Es war für mich immer faszinierend, welche Rituale sich da bei den einzelnen Spielern zeigten. Natürlich haben diese Rituale keinen Einfluß darauf, wie die Würfel fallen, aber fast jeder Spieler hat so seine Art, den Wurf gewissermaßen magisch zu beeinflussen. Ähnliches gilt für Geldspiel-Automaten. Es gibt kaum einen Spieler, der nicht fest davon überzeugt ist, den Automaten „lesen“ zu können, also zu erkennen, wann und wie man gewinnen kann. Das ist weitgehend Unfug und zählt wohl zu den sogenannten „urban legends“. Wenn so viele Spieler so kenntnisreich wären – kein Automatenaufsteller käme in die Gewinnzone.

Aber in uns allen steckt wohl der Hang, das Schicksal gewissermaßen auszutricksen, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Natürlich erinnert sich jeder an geglückte Versuche. Die gescheiterten sind nicht wichtig genug, sie sich einzuprägen. So entsteht nach und nach das Gefühl, das eigene Leben in dieser Weise steuern zu können.

Genau das ist ein verstörendes Element des Zufalls: Er entzieht uns einen Teil der Möglichkeit, das Leben zu planen. Was ich nicht „auf dem Schirm“ habe, trifft mich eben unerwartet und ich muß umdisponieren. Überraschungen sind nicht generell unwillkommen, aber wenigstens eine Ahnung vom Kommenden hätten wird denn doch ganz gerne. Wie lieben also Überraschungen, wenn sie nicht ganz unerwartet kommen. Aber dieser tückische Zufall…

Auch wenn die Frage jetzt vielleicht ein wenig spät kommt: Gibt es überhaupt Zufälle? Oder sind es nicht einfach nur Ereignisse, die für mich unerwartet eintreten? Der entsprechende mathematische Zweig heißt ja Wahrscheinlichkeitsrechnung und nicht Zufallsrechnung. Auch in der Wahrscheinlichkeitsrechnung lassen sich ja nur statistische, nicht aber individuelle Aussagen machen.

In der Philosophie wurde die Frage gestellt, ob es ein allwissendes Wesen geben könne, das über den aktuellen physikalischen Zustand des Universums informiert ist und daraus gewissermaßen desen Zukunft berechnen könnte. (Eine Antwort darauf kennen wir dank Douglas Adams: 42.) Aber nach unseren heutigen Kenntnissen kann es kein solches Wesen geben, da dies die gleichzeitige Erkenntnis des Status‘ des Universums voraussetzt. Seit Einstein wissen wir, daß es eine solche Gleichzeitigkeit nicht gibt. Das Chaotische ist also unabdingbarer Bestandteil unseres Lebens, und manchmal brauche ich mich nur in meinem Zimmer umzusehen, um das bestätigt zu finden…