Ich bin ein begeisterter Leser, und das füllt auch einen großen Teil meiner Freizeit aus. Bücher waren mir Zeit meines Lebens wichtige Begleiter.
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Lesen
Ein paar Gedanken über das Lesen.
Ich bin ein begeisterter Leser, und das füllt auch einen großen Teil meiner Freizeit aus. Bücher waren mir Zeit meines Lebens wichtige Begleiter. Früher besaß ich selbst einmal eine ganze Menge, aber im Laufe der Zeit sind mir viele verloren gegangen. Wirklich? Nein, denn ich habe ein gutes Gedächtnis, und so haben mich diese Bücher nicht wirklich verlassen. Sie sind nur nicht mehr in einem Regal verfügbar, aber ansonsten durchaus präsent.
Was also ist mir so wichtig an Büchern? Ich vergleiche das gern mit dem Besuch eines guten Freundes. Ich nehme mir Zeit dafür, heiße es gewissermaßen willkommen und trete in eine Welt ein, zu der ich in meinem Leben nicht oder nur eingeschränkt Zugang habe. „Wer liest, hat ein zweites Paar Ohren“, lautet ein Satz, den ich dazu vor vielen Jahren einmal gehört habe und der an Richtigkeit nicht verloren hat.
Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. Es gibt eine amerikanische Autorin namens Faye Kellermann, und ihre Krimis spielen a) in Amerika und b) im dortigen gemäßigt-orthodoxen jüdischen Milieu. Das war für mich als Mitteleuropäer mit keinen religiösen Bindungen oftmals schon befremdlich genug, aber ich habe eben auch viel darüber gelernt, ohne dass mir das so bewusst gewesen ist.
Das geschah erst, als ich Radio einmal einen Bericht über eine jüdisch-orthodoxe Gemeinde in London hörte. Nach einer Weile war ich ein wenig irritiert, denn der Bericht enthielt für mich nichts Neues. Alles, was in dem Bericht genannt wurde, kannte ich schon aus den Romanen von Faye Kellermann: Speise- und Bekleidungsregeln beispielsweise.
In diesen Romanen begegnete mir also nicht nur eine Kriminalgeschichte, sondern ich erfuhr kulturelle Hintergründe, die mir sonst nicht zugänglich wären - sozusagen durch die Hintertür. Dies nicht durch belehrende Exkurse im Roman, sondern einfach dadurch, dass ich der Geschichte und den Personen darin folgte. Genau das aber ist für mich das Spannende am Lesen: Ich gewinne Einblick in Verhältnisse, die in meinem Leben gar nicht präsent sind, weil meine Lebensumstände ganz anders aussehen. Ein Blick über den Tellerrand meines Lebens eben.
Ein vergleichbares Erlebnis hatte ich vor vielen Jahren. Es handelte sich dabei um einen Besuch in der Kunstsammlung Henry Nannen in Emden. Ich hatte Urlaub und war einfach ein wenig neugierig auf die Ausstellung dort und fuhr hin. Ich hatte den festen Vorsatz, mir die Gemälde einfach nur als Bild einzuprägen. Das gelang mir auch ganz gut. Mit einer Ausnahme. Es handelte sich um ein sehr großformatiges Bild, und entsprechend viel gab es darauf zu sehen.
Ich saß später im Zug und ließ die Erinnerung an die Bilder Revue passieren. Nur bei einem Bild hakte es ein wenig. In der unteren rechten Ecke war ein großer dunkler Fleck. Zuerst war ich verwundert über diesen Fleck, denn er war gewiss nicht Teil des Gemäldes. Erst als ich mich daran erinnerte, wie ich vor dem Bild gestanden hatte, fiel mir ein, dass ich bei dem Blick auf die Stelle, für die nun der dunkle Fleck stand, angefangen hatte, über das Bild nachzudenken.
Jahre später fand ich eine Zeile in einem Gedicht von Fernando Pessoa, die sehr gut auf die damalige Situation passte: „Denken ist eine Augenkrankheit.“
Durch dieses Zitat verbanden sich für mich zwei Wahrnehmungsebenen: die sprachliche und die visuelle. Vorrang hat zuerst die sprachliche Ebene, aber sie ist immer mit einer konkreten Lebenssituation verbunden. Der Satz wird also gewissermaßen zu einer Chiffre für dieses oder ähnliche Erlebnisse.
Solche Sätze finde ich immer wieder und sie bilden eine Art Schlüssel für die damit verbundenen Erfahrungen. Dabei muss es sich nicht unbedingt um eigene Erfahrungen handeln, sondern das Erleben anderer Menschen erschließt sich damit für mich. Genau darin besteht für mich der Reichtum des Lesens. Ich muss nicht alles selbst erlebt haben, um die geschilderten Ereignisse – im günstigsten Fall – für mich fruchtbar zu machen.
Zugegeben: Nicht jedes Buch wirkt auf diese Weise. Es gibt auch die, die nur dem Zeitvertreib dienen. Aber wie hieß es mal in der Werbung einer Fastfood-Kette: „Immer nur Kaviar ist Käse.“ Auch in einen Kopf sollte man, wie in den Magen, nicht mehr hineinstopfen als gerade Platz hat.
„Wer liest, hat ein zweites Paar Ohren“
Ein paar Gedanken über das Lesen.