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Verlorene Bücher

Was wäre in einer Bibliothek der unveröffentlichten Bücher wohl alles zu lesen?

Ich weiß nicht mehr genau, wie mir das Thema in den Sinn gekommen ist, aber mir fielen spontan Bücher ein, in denen dies angesprochen wurde: Carlos Ruiz Zafóns „Der Schatten des Windes“, erster Teil einer Tetralogie mit dem Obertitel „Der Friedhof der vergessenen Bücher“. Daneben dann noch Jasper Ffordes Buchreihe um Thursday Next oder A. S. Byatts Roman „Besessen“.

Aber es gibt ja auch in der Realität den Verlust von Büchern oder sogar ganzer Bibliotheken, die Bränden oder ideologischer Mißbilligung zum Opfer fielen. Die Bibliothek von Alexandria war nur eines der Opfer. Wenn es denn so war. Historisch belegt ist bestenfalls die Existenz dieser Bibliothek; was ihren Untergang bzw. Verschwinden betrifft, ist wenig bis nichts wirklich belegt. Was aber überlebt hat, ist der Mythos dieser Bibliothek als eines Zentrums der Gelehrsamkeit und seines Untergangs.

Bei Jasper Fforde steigert sich das Thema der verlorenen Bücher, denn es gibt dort sogar eine Bibliothek der unveröffentlichten Bücher („The well of lost plots“). Das ist natürlich ein Topos, der der Fantasie freien Lauf läßt. Was wäre da nicht alles zu lesen… Schließlich bleibt auch in unserem Leben manches ungesagt und ungehört.

Außerdem stellt sich bei mir die Erinnerung an eine Geschichte von Italo Calvinos „Herr Palomar“ ein. Herr Palomar macht Urlaub in Mittel- oder Südamerika und besucht die Ruinen der dort vergangenen Reiche. Er hat sich natürlich gut vorbereitet, und wenn der Reiseführer seiner Meinung nach zu wenig erzählt, springt er mit seinen Kenntnissen in die Bresche. Der Reiseführer nimmt dies gleichmütig hin und hat für alle Erklärungen von Herrn Palomar den immer gleichen Kommentar: „Man weiß es nicht genau.“

Was Calvino damit sagen will: Alle Geschichten erklären wir aus unserem heutigen Kontext heraus. Das kann gewaltige Unterschiede in der Deutung mit sich bringen. Ich habe neulich eine Buchbesprechung über eine feministische Sicht auf die Archäologie gehört, die mich sehr nachdenklich gemacht hat. Wir alle kennen wohl das Stereotyp über die urzeitlichen Jäger und Sammler: Der Mann ging auf die Jagd, die Frau kümmerte sich um Nachwuchs und häusliche Angelegenheiten. Allerdings war diese Deutung auch – oder wesentlich? – darin begründet, daß das damalige Gesellschaftsmodell in die Vergangenheit projiziert wurde. Ob es wirklich so war, läßt sich allein aus den Funden nicht begründen. Man weiß es eben nicht genau.

So ist es auch mit Büchern. Dieselbe Geschichte kann, in einen anderen gesellschaftlichen Kontext gestellt, ein durchaus anderes Gesicht erhalten und der Text allein gibt darüber nicht genügend Auskunft. Auch auf diese Weise können sie verloren gehen, obwohl sie als Text erhalten sind.

Damit zu einem anderen Punkt, der in diesem Zusammenhang wichtig ist: Bücher können auch verloren gehen, weil die Sprache, in der sie geschrieben sind, ausstirbt. So war es mit den Hieroglyphen. Als Artefakte vielfach vorhanden, aber anfangs einfach unleserlich, weil die Sprache, auf der die Texte basierten, nicht mehr existierte.

Eine weitere Ursache für einen möglichen Verlust betrifft das Material. Frühe Texte wurden in Stein gemeißelt oder auf Tontafeln geschrieben. Das erhöhte zwar die Dauerhaftigkeit, machte die Texte aber ein wenig unhandlich.

Papier braucht wenig Platz. Der neueste Bestseller auf Tontafeln bräuchte wohl locker eine Garage als Lagerplatz und das Umblättern wäre wohl eher mühselig, von den staubigen Fingern ganz abgesehen. Aber Papier reagiert empfindlich auf Feuchtigkeit oder Feuer. Es ist allerdings nicht ganz einfach, ein Buch zu verbrennen, da zwar die einzelne Seite leicht Feuer fängt, zusammen als Buch aber nicht so leicht zu entflammen ist. Dennoch ist der Erhalt alter Bücher ein mühseliges Unterfangen. Auch das Papier selbst kann dazu beitragen, je nachdem, auf welche Weise es hergestellt wurde. Säurehaltiges Papier hat da ganz entschiedene Nachteile.

Ein Versuch, diese Anfälligkeit zu überwinden, ist die Digitalisierung. Auch die ist nicht für die Ewigkeit, denn da kommt es auf das Speichermedium an. Als ich mit der Computerei anfing, gab es noch Diskettenlaufwerke mit 5“-Disketten, es folgten die kleineren 3,5“-Disketten, die zusätlich über eine stabile Schutzhülle verfügten. Aber all diese Materialien unterliegen der Alterung. Da schienen CDs und später DVDs eine dauerhaftere Lösung zu bieten. Es hat sich herausgestellt, daß es auch damit nicht so weit her ist und über Diskettenlaufwerke verfügen Computer kaum noch. Wenn also den Medien die entsprechenden Geräte fehlen, stehen wir wir die Ägyptologie vor den Artefakten und wissen nichts damit anzufangen, weil die Technik nicht mehr existiert.

Da bietet sich das Buch dann doch als die bessere Alternative an. Allerdings: Lesen muß man schon können, und in diesen Tagen ging die Meldung durch die Nachrichten, daß die Lesefähigkeit der Schüler abgenommen hat, und das nicht nur auf Grund der Auswirkungen der Lockdowns, sondern auch über einen Zeitraum von 10 Jahren gesehen. Da paßt es wie die Faust aufs Auge, daß die Förderung von Sprach-Kindergärten eingestellt werden soll.

Ich muß zugeben, daß ich so etwas nur schwer verstehen kann. Lesen ist eine elementare Fähigkeit, die die Schule den Kindern vermitteln sollte. Trotz aller bunten Inhalte enthält auch das Internet ja eine ganze Menge Text, und wenn ich mir den nicht erschließen kann, nutzt mir das gewaltige Angebot nicht gar so viel.

Ich kann da nur von mir ausgehen und muß feststellen: Ohne Lesen zu können würde mir eine entscheidende Qualität in meinem Leben fehlen. Daher habe ich einen gewaltigen Horror vor der Vorstellung, ich könne altersbedingt oder durch Unfall meine Sehfähigkeit verlieren. Hörbücher mögen ein ganz netter Zeitvertreib sein, ein Ersatz sind sie für mich nicht. Wie soll man in ihnen stöbern und sich neugierig auf das ganze Buch machen lassen? Das ist für mich nicht vorstellbar. Auch so könnten individuell Bücher für mich verloren gehen.